Kritische Randbemerkungen zu einer Kritik

Liebe Besucherinnen und Besucher,

ausgerechnet am Morgen des Faschingssonntag, während draußen die Sonne strahlt und meine Frau in der Gilchinger Bereitschaftspraxis ärztlichen Notdienst leistet, sitze ich in meiner Weßlinger „Schreibstube“ und mache mir Gedanken über einen seltsamen Artikel, der am 24. Januar in der Tageszeitung Die Welt erschienen ist (Rubrik „Deutsche Momente“): Jenes Berliner Organ entsandte nämlich offenbar eine im wahrsten Sinne des Wortes „nüchterne“ Journalistin nach München zu unserem „Fest der Liebespoesie“. Ihr knurrender Magen, so fürchte ich, hat sich sogar bis hinein in ihren Bericht artikuliert.

An besagtem Abend war nämlich eine Reporterin, völlig außer Atem und offensichtlich mit einem Bärenhunger („ich bin seit 8 Uhr morgens nüchtern!“), so spät zum Fest erschienen, dass schon alle Freicoupons für Getränke und Essen ausgegeben waren. Zwar konnten wir für die Frau noch entsprechende Gutscheine organisieren, aber für das leibliche Wohl der Gäste wurde erst eine Stunde später, in der Pause, gesorgt. Nun sind 60 Minuten Liebespoesie auf nüchternen Magen sicherlich nicht für jeden Organismus leicht zu verdauen, und wenn im Inneren Kalorienarmut herrscht, fällt auch der Orgasmus im Kopf aus: „Der Anflug von geistiger An- oder gar Erregung stellt sich kaum ein, weder vor Alkohol und Teigtaschen“, schreibt die Welt-Kritikerin ein wenig „angefressen“.

Vielleicht trübt Heißhunger sogar bisweilen auch das Seh- und Hörvermögen. Jedenfalls sieht jene Reporterin nur noch schwarz-weiß, d. h. ausschließlich alte Leute mit Zottelhaaren um sich herum sitzen: „Ergraut ist es, das Publikum, kein Haar gefärbt, kaum eins gestutzt“. Abgesehen davon, dass die erzkonservative Welt in den vergangenen Jahrzehnten nicht gerade als Teenager-Blatt für Schlagzeilen gesorgt hat, und auch abgesehen von der hier zu Tage tretenden, geradezu bieder-spießigen Einstellung, dass ältere Menschen besser nichts mit Erotik am Hut haben sollten, frage ich mich ernsthaft, ob diese Journalistin und ich in derselben Veranstaltung saßen. Wenn ich allein an die vielen bildschönen, reifen Frauen, aber auch an die jungen Autorinnen denke, die mir an diesem Abend begegnet sind … Selbst der für seine brillante Vortragskunst weithin bekannte Münchner Altphilologe und Universalerotiker Prof. Niklas Holzberg kommt in dieser Nacht nicht bei der Welt an: „Ausgerechnet antike Liebeslyrik leidet unter der hüftsteifen Anzüglichkeit des Vortrags“.

Und auch das Geburtstagskind selbst, unsere Zeitschrift DAS GEDICHT, hat jene Kritikerin offensichtlich nicht oft in der Hand gehabt hat. Denn während nicht wenige ihrer Kollegen die Aktualität unserer Themen diskutieren, hält die Frau von der Welt unser Lyrikkompendium für „ein Träumerblatt“, das seit „1993 gänzlich ohne Zeitbezug und nahezu ohne Layout“ auskomme, aber letztendlich wegen seiner „Abmischung“ doch „einzigartig“ sei.

Ich fürchte, die Gute liest die eigene Zeitung nicht, denn es scheint ihr entgangen zu sein, dass Die Welt immer wieder einmal Gedichte aus DAS GEDICHT nachdruckte, sogar auf einer ganzen Zeitungsseite, als Papst Johannes Paul II ein Jugendgedicht in unserem Religions-Special publizierte (was Die Welt damals übrigens zunächst ohne deutlich erkennbaren Quellenverweis tat, fast so, als hätte sie den Dichter im Papst entdeckt). Die Religionsausgabe von DAS GEDICHT (Nr. 9) erschien – ohne Zeitbezug? – wenige Tage vor dem schicksalsträchtigen 11. September 2001, und diskutierte als eines der ersten Organe, noch vor den meisten Feuilletons, das Wiedererstarken der Religionen und die möglichen Auswirkungen auf die Literatur / Lyrik der Gegenwart.

Zuvor hatte bereits DAS GEDICHT Nr. 7 (Herbst 1999) mit seiner „Liste der Jahrhundertdichter“ den Grundstein für alle späteren Kanon-Debatten in den Feuilletons gelegt. Und die Jubiläumsausgabe Nr. 10 formulierte im Frühjahr 2002 unter dem Motto „Politik und Poesie. Gedichte gegen Gewalt“ ein klares NEIN der internationalen Dichter zu den bevorstehenden kriegerischen Auseinandersetzungen in Afghanistan und Irak (wobei sich neben Autoren wie Günter Grass und Hans Magnus Enzensberger auch Lyriker aus den USA, aus Großbritannien, aus Afghanistan und dem Irak beteiligten).

Der langen Rede kurzer Sinn: Liebe Leute von der Tageszeitung Die Welt, bitte seid so gut und schickt uns beim nächsten Mal eine Journalistin vorbei, die sich für den anstehenden Termin besser vorbereitet, vorher aber ordentlich frühstückt und zu Mittag isst.

Nichts für ungut also
und einen sonnigen Sonntag noch
aus dem sonnigen „Hauptdorf der Poesie“,

Ihr / Euer Anton G. Leitner

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