Winter mit Aussicht – Anton G. Leitner und Andreas H. Drescher lesen Poesie und Prosa zwischen Eiszeit und Heißzeit

Dienstag, 5. Februar 2019, 19:30 Uhr
Stadtbibliothek Saarlouis
(Kaiser-Friedrich-Ring 26 | Theater am Ring, 66740 Saarlouis)
Eintritt frei

Die Stadtbibliothek Saarlouis und die vhs Saarlouis laden zur Autorenlesung »Winter mit Aussicht« ein. Dabei trifft atmosphärisch dichte Prosa, die im Saarland wurzelt, auf gepfefferte »Schnablgwaxe« aus Bayern.

Im Duett widmen sich Andreas H. Drescher (Saarlouis) und Anton G. Leitner (München) zunächst den Zeiten der Kälte in Natur und Gesellschaft. Um sich vor Frostbeulen zu schützen, macht Verskabarettist Leitner seiner weiß-blauen Heimat mächtig Feuer unterm Hintern, während Drescher u. a. vom großväterlichen Winter des Lebens erzählt, aus seinem Roman »Kohlenhund«.

Aber weil auch bei eisigen Temperaturen schon die Hoffnung auf wärmere Tage keimt und weil auf jedes Ende einer neuer Anfang folgt, sprießen nach der Pause Liebe und Seitenhiebe in Frühlingspoesie und Sommerprosa. Zum Abschluss der bairisch-saarländischen Literaturbegegnung besteht die Möglichkeit zum Austausch mit den beiden Schriftstellerfreunden.

 

Andreas H. Drescher. Foto: Werner Richter

Andreas H. Drescher wurde 1962 in Schwalbach (Lkr. Saarlouis) geboren und lebt heute in Saarlouis. Er studierte Germanistik, Politik und Philosophie, bevor er sich ausschließlich dem Schreiben widmete.

Sein besonderes Interesse gilt der Fusion von Literatur mit Bildender Kunst und Neuen Medien. 2017 erhielt er als »Grenzgänger zwischen Literatur, Kunst, Film und Musik« den »Kulturpreis für Kunst und Wissenschaft« des Landkreises Saarlouis, außerdem wurde ihm ein Künstlerstipendium auf Schloss Wiepersdorf zuerkannt.

Dreschers 2018 erschienener Roman »Kohlenhund« sorgte auch überregional für Aufsehen. Internet: www.edition-abel.de

 

Anton G. Leitner. Foto: Volker Derlath

Anton G. Leitner wurde 1961 in München geboren. Der examinierte Jurist lebt als Lyriker, Herausgeber und Verleger in Weßling bei München. Seit 1993 ediert er die buchstarke Jahresschrift DAS GEDICHT, die sich zu einem internationalen Forum für Gegenwartslyrik entwickelt hat.

Bislang publizierte er zwölf lyrische Einzeltitel, im Jahr 2016 den Mundart-Band »Schnablgwax. Bairisches Verskabarett« und das gleichnamige Hörbuch. Eine Werkauswahl seiner Gedichte wurde ins Englische übertragen und ist Ende 2018 in Dublin unter dem Titel »Selected Poems 1981–2015« erschienen. Derzeit wird eine Auswahl seiner Gedichte ins Französische übersetzt und 2019 in Frankreich publiziert.

Außerdem veröffentlichte er mehr als 40 Anthologien in deutschen Premium-Verlagen wie dtv oder Reclam, zuletzt »Der Himmel von morgen. Gedichte über Gott und die Welt« (2018). Er wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem »Tassilo-Kulturpreis« der Süddeutschen Zeitung (2016). Internet: www.AntonLeitner.de und www.dasgedicht.de

 

Eingestreute Gedichte:
Du frogsd mi Sachan
oda I ohne di – des geed goa ni

Meina Muadda zum Achzga
am zwäifdn Janua
Zwoadausndneinzeen

 

Wo waar i
Ohne di
Wos waar i
Waar i hi

Waar i do
Wo i sei mechd
Fois du need
Waarsd

Mechd i need
Sei, wo i heid
Bin, do bin i
Do bei mia und

Do bei dia
Bisd du bei
Mia und imma
Samma füa

Uns do und aa
No zam, bois
Nua no rügg-
Weaz gang

Do daadma mid-
Anand no doa
Wos ma scho
Lang aa doa

Ham woin, oi-
Wei no jünga
Wean, wia mas
Scho san, wei

Gscheid geboan
Is gscheida no
Ois debbad
Gschdoam.

Drum bleima
Zam, solang
Wias geed, wei
Need gee duads

No vo alloa.
Zum Zam-
Raffa is grod
No Zeid

Drum nuzz mas
Wias nua gäd
Wei bessa gee
Kos need, ois

Wias scho is
Und wia mas
Hoffd, so
Kummds

Need ofd
Awa guad
Ghoffd is oi-
Wei gsünda

Wia schlechd
Greed, wei
Woana muas ma
Gnua no vo

Alloa.

 

Du stellst Fragen
oder
Ich ohne dich – das geht gar nicht

 

Meiner Mutter zum achtzigsten
Geburtstag am zwölften Januar
Zweitausendneunzehn

Wo wäre ich
Ohne dich
Was wäre ich
Wäre ich tot

Wäre ich da
Wo ich sein mag
Wenn es dich nicht
Gäbe

Würde ich nicht da
Sein wollen, wo ich heute
Bin, da bin ich
Ganz bei mir und

Da bei dir
Bist du bei
Mir und immer
Sind wir für

Einander da und auch
Noch beisammen, wenn es
Nur noch rück-
Wärts ginge

Da würden wir mit-
Einander noch tun
Was wir schon
Lange tun

Wollten, nämlich
Noch jünger
Werden, als wir
Schon sind, denn

Intelligent geboren zu werden
Ist wesentlich schlauer
Als dumm
Zu sterben.

Deshalb bleiben wir
Zusammen, solange
Es nur geht, denn
Nicht gut gehen wird’s uns

Noch von ganz alleine.
Zum Zusammen-
Raufen ist gerade
Noch Zeit

Lass sie uns also nutzen
So gut es geht
Denn besser gehen
Kann’s uns nicht, als

Es uns geht
Und wie er-
Hofft, so
Kommt es

Nicht oft
Aber gut
Gehofft ist immer
Gesünder

Als alles schlecht
Geredet, denn
Tränen fließen
Noch von ganz

Alleine.

 

Erstveröffentlichung © Anton G. Leitner, Weßling 2019

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Anton G. Leitner wurde 1961 in München geboren. Der examinierte Jurist lebt als Lyriker, Herausgeber und Verleger in Weßling (Lkr. Starnberg). Er ediert seit 1993 die buchstarke Jahresschrift DAS GEDICHT. Bislang sind von ihm zwölf lyrische Einzeltitel erschienen, u. a. der Mundart-Band »Schnablgwax. Bairisches Verskabarett« und das gleichnamige Hörbuch (2016). Eine Werkauswahl seiner Gedichte wurde ins Englische übertragen und 2018 unter dem Titel »Selected Poems 1981–2015« bei SurVision Books in Dublin publiziert. Außerdem veröffentlichte er mehr als 40 Anthologien in deutschen Premiumverlagen wie Reclam oder dtv. Leitner ist Mitglied der »Münchner Turmschreiber«. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem »Bayerischen Poetentaler« (2015) und dem »Tassilo-Kulturpreis« der Süddeutschen Zeitung (2016).
www.AntonLeitner.de, www.Schnablgwax.de und www.dasgedicht.de
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Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr 2019

Allen Besucherinnen und Besuchern meiner Internetseiten, allen liebgewonnenen Büchermenschen, besonders aber allen Freundinnen und Freunden der Lyrik wünsche ich ein Weihnachtsfest 2018 mit vielen poetischen Momenten und ein gesundes, glückliches und friedliches neues Jahr 2019.

Anton G. Leitner. Foto: Volker Derlath

Anton G. Leitner. Foto: Volker Derlath

An dieser Stelle möchte ich mich noch ganz besonders herzlich bei all jenen bedanken, die mir in den Tagen schwerer Krankheit im Jahr 2018 beigestanden sind und mir mit Rat und Tat geholfen haben, wieder gesund zu werden. Mit den verlorenen 22 kg Körpergewicht lebt es sich buchstäblich leichter, auch wenn es sicherlich angenehmere Methoden gibt, abzunehmen. Ein besonderer Dank gebührt meiner Frau und Hausärztin Felizitas und allen weiteren behandelnden Ärztinnen und Ärzten, meinen Eltern Ingrid und Anton Leitner, meiner Mitarbeiterin Gabriele Trinckler, unserer Redaktion DAS GEDICHT und einer ganzen Reihe von alten wie neuen Freundinnen und Freunden, von etlichen Poetinnen und Poeten und den vielen Leserinnen und Lesern, die mich nach Kräften unterstützten.

Eure Solidarität war mein persönliches Wunder im Jahr 2018 und die Wertschätzung meiner künstlerischen und editorischen Arbeit durch Euch hat mich ermutigt und zugleich ermuntert, mich so viel zu bewegen wie selten zuvor in meinem Leben. Und so habe ich eine körperliche Kondition zurückgewonnen, wie ich sie zuletzt als junger Hüpfer hatte, und ich hätte wirklich nicht gedacht, wie viel Vergnügen es macht, regelmäßig meine Poetenstube zu verlassen und zu schwimmen, zu wandern, so viel es nur geht. Oft bin ich jetzt auch noch spät nachts unterwegs, weil mir jede Menge Arbeit liegen geblieben ist, und ich nicht früher aufbrechen kann, aber gerade diese einsamen Nachtwanderungen, bei denen ich niemandem begegne, bieten eine gute Gelegenheit, um den Stoff für neue Gedichte gedanklich vor- und aufzubereiten.

Dass ausgerechnet im Jahr 2018, in dem ich krankheitsbedingt monatelang ausgefallen bin, meine Gedichte so viel übersetzt wurden wie selten zuvor, u. a. ins Arabische, Kroatische, Englische und Französische, und dass erst vor kurzem, im November, ein stattlicher Auswahlband meiner Gedichte aus 35 Jahren in englischer Sprache („Selected Poems 1981–2015“) bei SurVision Books in Dublin erschien, ist ein sehr beglückendes Gefühl, das ich insbesondere dem Engagement meiner Übersetzer Richard Dove, Paul-Henri Campbell und Yulia und Anatoly Kudryavitsky zu verdanken habe, letzterer ist auch mein Verleger für den englischen Sprachraum.

Im Anschluss an diese Zeilen finden Sie ein Weihnachtsgedicht von mir, das ich aus meinen „Selected Poems“ ausgekoppelt habe, um es Ihnen auf diese Weise zugänglich zu machen.

Bleiben Sie der Poesie
und meiner Arbeit rund um DAS GEDICHT
auch weiterhin gewogen.

Alles Gute, toi, toi, toi,
auf ein neues Lyrikjahr,
Ihr
Anton G. Leitner

 

Christmastide

I.

History,
In the night
Of his birth,

Does not take another
Retrograde step. Some
Found their

Dream illumined
By electric
Light.

Then the candles
Burned
To the rhythm of the

Programmed
Timer
And no honey

Dripped
From Jesse’s
Tree.

II.

Once a year
The moon turns two
Benevolent blind

Eyes, bestowing
Its light upon
A star.

Three men
Find the road
To the end

Of the night. No
Smoke can
Deceive them.

Their gift
Is a cross
Which grows

With the child.
One for all
And all

Against him.
How it ends,
We all know.

© Anton G. Leitner, Weßling
Translated from the German by Richard Dove
Translations © Richard Dove, Munich

Anton G. Leitner: Selected Poems

Anton G. Leitner: Selected Poems

aus
Anton G. Leitner:
Selected Poems 1981–2015
SurVision Books, Dublin 2018

Den Funken geweckt und im Brennen versöhnt
Anton G. Leitner für Anton Leitner senior am 20.12.2018 zu seinem Achtzigsten

Meinem Vater Anton Leitner gratuliere ich ganz herzlich zu seinem 80. Geburtstag am 20. Dezember 2018. Auf dass er noch unzählige Spazierrunden um seinen geliebten Weßlinger See drehen kann und sein Lieblingsgewässer viele weitere Sommer lang kreuz und quer durchschwimmen möge, und dies bei hellwachem Verstand und bester Gesundheit, versteht sich. Und natürlich habe ich für Vater, wie sich das für einen schreibenden Sohn gehört, zu diesem Anlass auch noch einige weitere Zeilen verfasst:

Die wenigsten Väter wünschen sich, dass Ihre Söhne Poeten werden – und sie haben noch nicht einmal ganz unrecht dabei, weil sie vorauszuahnen glauben, welche Finsternis eine freie Existenz als mutmaßlicher „Luftikus“ vor allem in materieller Hinsicht bedeuten kann.

Anton Leitner senior. Foto: Anton G. Leitner

Anton Leitner senior. Foto: Anton G. Leitner

Als studierter Lateiner und Altgrieche hatte mein Vater schon als Oberstufenschüler des Wittelsbacher Gymnasiums in München und später dort als Student der Altphilologie an der Ludwigs-Maximilians-Universität (LMU) die „Mathematik“ der Sprachen des klassischen Altertums durch und durch verinnerlicht, sie vom Blatt weg übersetzt und später auch noch geradezu akrobatisch in ihren modernen Varianten, mögen sie Italienisch oder Spanisch oder Neugriechisch heißen, sprechend angewandt. Als Übersetzer, Leser, Lehrer, Schnellredner im täglichen Leben wie vor mehreren Schülergenerationen. Immer wieder sind Schülerinnen und Schüler von ihm ebenfalls Altphilologinnen und Altphilologen geworden, weil ihnen Vater die Schönheit der sogenannten „alten“, in Wirklichkeit aber ewigen Sprachen so vermitteln konnte wie kaum ein anderer Lateinlehrer seiner oder seiner Vorgängergeneration. Er vollbrachte viele kleine Wunder, indem er es schaffte, jenen Funken in ihnen zu wecken, der das Feuer für ein ganzes Berufsleben entfachen kann, wobei hier mehr von Berufung als von Beruf die Rede ist. Wer von seinem Fach oder Metier so begeistert und durchdrungen ist, so dafür brennt, kann es am besten vermitteln. Und wer mit seinen Schülerinnen und Schülern eine Engelsgeduld hat, bringt sie nicht unbedingt immer für seinen eigenen Sohn auf, weil er seine Engelsgeduld schon im Klassenzimmer und im Elternsprechzimmer aufgebraucht hat und weil ein starker, widerborstiger Sohn im Vater einen raumgreifenden Rivalen sieht und der starke, raumgreifende Vater im renitenten Sohn einen Widerpart, so unbezähmbar wie er selbst, sein Alter Ego. Der stehende Ausdruck, so gehört es sich an dieser Stelle auch, geht auf den römischen Politiker und Staatsphilosophen Cicero zurück, der im Jahr 44 vor Christi Geburt in „Laelius de amicitia“ (21, 80) schrieb: „verus amicus est tamquam alter idem“ („Ein wahrer Freund ist gleichsam ein zweites Selbst“) – vielleicht gilt dies ja auch für einen echten Sohn?

Die wenigsten Väter wünschen sich, dass ihr Sohn Dichter wird, auch weil sie vielleicht Carl Spitzwegs berühmtestes Bild „Der Arme Poet“ vor Augen haben, und deshalb fürchten, ihr Spross könnte ihnen ein Leben lang auf der Tasche liegen. Und weil sie glauben, ein junger Dichter saufe und vögle und schlafe bis in die Puppen mit Puppen, die mehr das Klischee vom wilden Dichterleben lieben als bisweilen den Dichter, weil es womöglich einfach spannender ist mit einem bohemisierenden Literaten eine Nacht oder auch zwei oder auch drei oder sogar ein Jahr zusammen zu sein als mit einem lackierten Banker- oder Versicherungshengst ein langweiliges, gesichertes Leben lang. Und der Glaube an dieses Klischee würde sogar mich selbst etwas neidisch werden lassen, wenn ich ein Vater wäre und einen Sohn hätte, der schreibt, wenn ich also mein Vater wäre. Denn darf in einem Land, wie unserem, das es liebt, nach außen als „Land der Dichter und Denker“ zu firmieren, innen aber längst Pecunia auf den Thron gehoben hat, etwas, das Spaß macht, zum Beruf werden? Die Antwort lautet „Ja“, denn das belegt das ganze berufene Berufsleben von Anton Senior: Wie viel Spaß hat ihm der tägliche Unterricht mit seinen Schülerinnen und Schülern gemacht, deren Namen er allesamt bis heute noch aufzählen kann, tausende an der Zahl, und denen er allen potenziell zutraute, Generaldirektor einer Versicherung oder Bank aber auch und vor allem Ministerialbeamter zu werden – und lebenslänglich verbeamtet dann vielleicht doch bloß einem Politiker zuzuarbeiten, dessen Schuhe viel zu klein für so ein Mandat sind oder auch das Mandat viel zu groß für den Zuarbeiter.

Sei’s drum: Vater gab vor allem den Müttern und ihren Kindern und bisweilen auch den seltener bei ihm aufkreuzenden Vätern das Gefühl, dass sie die tüchtigsten und begabtesten Kinder überhaupt hätten und darüber hinaus die nettesten Eltern wären. Und wenn schon nicht die Eltern an ihre Kinder glaubten, dann wenigstens ihr Lehrer und späterer Begründer und Schulleiter des Carl-Spitzweg-Gymnasiums in Unterpfaffenhofen-Germering. Und dieser unverbrüchliche Glaube an sie und an das Gute im Menschen hat viele von ihnen tatsächlich über sich selbst hinauswachsen lassen. Dies alles, während man gleichzeitig andernorts ihren Altersgenossen vermittelte, sie seien zu dumm für die von ihren Eltern für sie gewählte Schulart und sie gehörten auf eine ganz andere Schule, im Grunde genommen „auf die Hilfsschule“, weil sie ja noch nicht mal bis drei zählen könnten, oder besser gleich in die Baumschule zum Lehrer Ast. Und von den anderswo Geprügelten haben sich einige, allen Prügelpädagogen und Kinderhassern zum Trotz, durchgebissen und wieder andere völlig verzweifelt dem Untergang ihrer Schulkarriere ergeben.

Giuseppe Ungaretti: Die späten Gedichte (Cover)

Giuseppe Ungaretti: Die späten Gedichte

Ich selbst bin in der Schule viel zu lange viel zu wenig an Lehrer wie meinen Vater geraten und hab mich um fünf vor zwölf, sprich in der Oberstufe, noch an die schulische Spitze durchgekämpft, vom Versager zum Einserschüler, wahrscheinlich nur, um es allen zu zeigen und meinem Vater und mir selbst auch. Um dann von eben jenem – mit mir oft so ungeduldigen – Papa eines Tages, vielleicht mit Siebzehn oder Achtzehn, einen Band des italienischen Dichters Giuseppe Ungaretti unter den Christbaum gelegt zu bekommen. Spätestens damit hat er dann all das angerichtet, was er als Vater eigentlich vermeiden wollte, nämlich, dass der Wunsch seines Sohnes, ein Poet zu werden und nichts als der Poesie sein Leben zu verschreiben, übermächtig wurde, weil mich, seinen Sohn der Blitzschlag traf, als ich die Altersgedichte des 80-jährigen Dichters las, darunter „Il Taccuino del Vecchio“, die weisen aber überhaupt nicht überheblichen „Notizen des Alten“ oder Ungarettis Zyklus „Letzte Chöre für das gelobte Land“, zweisprachig, italienisch – deutsch. Wohin überall hat mich dieses mir so heilig gewordene Buch ein Leben lang begleitet, in wie vielen Situationen habe ich darin Stärkung und Trost gefunden. Das Geschenk meines Vaters hat mich ganz und gar entflammt, von Ungarettis Alterswerk aus erschloss ich mir sein Frühwerk, stieß auf seine Übersetzer Ingeborg Bachmann, Paul Celan oder Hilde Domin.

Ungarettis Frühwerk hat mich buchstäblich mindestens so mitgenommen wie seine reifen und ausgreifenderen Altersverse. Denn die frühe Lyrik des großen italienischen Dichters zeugt von allerhöchster Sprachintensität, sie entstand teilweise in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs, und darin sagt er mit wenigen Worten alles, was in einem so fürchterlichen Krieg noch in Worte gefasst werden kann. Ungaretti brachte die ganze Welt dichtend auf den Punkt und stiftete mich an, meine eigene Welt zu verdichten.

Die wenigsten Väter wünschen sich, dass ihr Sohn Dichter wird, aber warum hatte dann mein Vater in seiner Bibliothek so viele Oxfordausgaben stehen, die gesammelten Werke z. B. von Catull, Tibull und Properz, dem unvergleichlichen Dreigestirn der Römischen Liebeslyrik. Weder gekürzt noch bieder zurecht zensiert , im Gegensatz zur altbackenen Schullektüre. Ich wurde zum Querleser in Vaters Bibliothek, weil in Vaters Büchern ein Schwanz auf lateinisch mentula, also Schwanz hieß, und dies schon fast zweitausend Jahre bevor ein so großartiger Lyriker wie Charles Bukowski das Wort Schwanz wieder in den Mund nahm und exzessiv aufs Papier bannte. So hat Anton, der Ältere, mein Vater also, ungewollt oder doch unterbewusst angestoßen, dass Anton der Jüngere, sein Sohn, das geworden ist, was er werden wollte und wohl auch am besten kann: ein Poet und ein Vermittler von Poesie. Und dies aller zum Schein studierten bürgerlichen Jurisprudenz zum Trotz, weil deren Studium am ehesten klammheimliche Freiräume zum Dichten eröffnete, und trotz aller zum Schein abgelegter rechtswissenschaftlicher Scheine und dem zum Schein tatsächlich bestandenen juristischen Staatsexamen, in Vaters Augen die große Aussicht auf ein späteres Beamtenleben in zu großen oder zu kleinen Schuhen, jemand anderem zuarbeitend, fremdbestimmt, aber dafür scheinbar sicher vor allen Risiken des Lebens. Der schöne Schein ohne mitbedachte Liebe, ohne mitbedachte Berufskrankheiten, ohne mitbedachte Kolleginnen und Kollegen … Mehr Schein als Sein. Jedenfalls für einen, der die Poesie liebt.

LATEIN 1. LernjahrUnd dann hat Vater noch mit seinen bis heute lieferbaren Lateinlernhilfen den jungen Lyrikverlag des Sohnes vor einem Vierteljahrhundert mit angeschoben, tausende von Exemplaren davon verkauft, bis sich schließlich die Poesie des Sohnes tausendfach verkaufte.

Und dann hat er eines Tages zum Sohn gesagt: Scheiße, als Jurist hättest Du weniger arbeiten müssen, aber wahrscheinlich auch weniger Freude gehabt im Leben, wenn ich allein an Deine Freundinnen in Deinen jungen wilden Dichterjahren denke.

Anton G. Leitner. Foto: Volker Derlath

Anton G. Leitner. Foto: Volker Derlath

Tempus fugit, wie die Zeit vergeht! Jetzt ist der Sohn auch schon bald sechzig und seit fast 30 Jahren unter der Haube mit derselben Frau und arbeitet viel, vielleicht sogar noch mehr, wie der Vater gearbeitet hat, und brennt so sehr für die Sprache, wie der Vater auch für die Sprache brannte. Und so sind sie beide alt und beide jung geblieben, der Vater und der Sohn. Und sie brennen beide bis zum Schluss und sie haben beide gezündelt, um die Funken in manch anderen auch zum Feuer auflodern zu lassen, und dabei treffen sie sich heute wieder, im Brennen versöhnt.

Schneller langsam. Schlendernde Poesie in rasenden Zeiten – DICHTUNG + FILM im Rahmen des Fünf-Seen-Filmfestivals 2018

Die Poesie schöpft ihre Kraft nicht nur aus schnellen Rhythmen, sondern gewinnt ihren Zauber insbesondere aus der stillen Beobachtung des Kleinen und Unscheinbaren. Der Schweizer Schriftsteller und Literaturkritiker Nicola Bardola verfasste neben zahlreichen Gedichten vieldiskutierte Romane wie »Patt« und »Schlemm« sowie Biographien zu John Lennon oder Yoko Ono. Zusammen mit der Münchner Poetin Gabriele Trinckler und dem vielfach ausgezeichneten Lyriker Anton G. Leitner spürt er dem Lauf der Zeit nach.

Anschließend:
Paterson
USA, 2016 | 123 Min. | Buch und Regie: Jim Jarmusch | Darsteller: Adam Driver, Golshifteh Farahani, Barry Shabaka Henley, Rizwan Manji, Masatoshi Nagase u. a.

Der Busfahrer Paterson lebt in der gleichnamigen Kleinstadt in New Jersey und schreibt Tag für Tag in seiner Mittagspause Gedichte. Während er der Ruhepol ist, um den die Stadt kreist, jagt seine Ehefrau Laura wilden Träumen hinterher. Patersons Gedichte verfasste der bekannte US-amerikanische Lyriker Ron Padgett eigens für den Film, der von vielen weiteren dichterischen Bezügen durchzogen ist, denn schließlich setze bereits William Carlos William der Stadt Paterson ein fünfbändiges poetisches Denkmal.

Ort: Kino Breitwand Schloss Seefeld
(Schloßhof 7, 82229 Seefeld-Hechendorf),
Termin: Mittwoch, 12.9.2018, Beginn 19.30 Uhr
Eintritt: € 15,-
Kartenreservierungen unter www.fsff.de

Nicola Bardola, 1959 in Zürich geboren, veröffentlichte als Student an der Universität Bern erste Gedichte und schrieb 1984 an der Universität Zürich im Fach Germanistik seine Lizentiatsarbeit über Theorien moderner Lyrik (u. a. zu Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, Jürgen Theobaldy). Seither lebt er in München, wo er seine Kolumne »Lyrik Revue« zunächst für das Münchner BuchMagazin betreute und für die Süddeutsche Zeitung sowie die NZZ schrieb. Neben vieldiskutierten Romanen wie »Patt« und »Schlemm« sowie Biographien zu John Lennon oder Yoko Ono veröffentlichte er Gedichte in Zeitschriften und Anthologien, übersetzte Eugenio Montale ins Deutsche und war Mitbegründer der Initiative Junger Autoren (IJA). Internet: www.bardola.de

Anton G. Leitner, geboren 1961 in München, publizierte bislang zwölf lyrische Einzeltitel, zuletzt »Schnablgwax. Bairisches Verskabarett«. In seinem Verlag in Weßling gibt er seit 1993 die buchstarke Zeitschrift DAS GEDICHT heraus, die von Herbst 2017 bis Sommer 2018 bundesweit ihr 25. Jubiläum feierte. Darüber hinaus edierte er über vierzig Anthologien. Mit seiner Sammlung »Ois is easy. Gedichte aus Bayern« hat er den weiß-blauen Freistaat lyrisch neu kartografiert. Zuletzt erschienen bei Reclam seine Sammelbände »Heimat. Gedichte« (2017) und »Der Himmel von morgen. Gedichte über Gott und die Welt« (2018). Leitner wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem V. O. Stomps-Preis der Stadt Mainz, dem Bayerischen Poetentaler und zuletzt mit dem Tassilo-Kulturpreis der Süddeutschen Zeitung (2016). Er ist Mitglied der Münchner Turmschreiber.
Internet: www.AntonLeitner.de und www.dasgedicht.de

Gabriele Trinckler, geboren 1966 in Berlin, lebt seit 1999 in München. Sie arbeitet als Verlagsassistentin und Lektorin im Anton G. Leitner Verlag, Weßling. Außerdem ist sie Redakteurin der Zeitschrift DAS GEDICHT. 2018 erschien ihr jüngstes Lyrikbändchen »hase im grübchen« im Rahmen des Projekts »Literaturautomat« in Düsseldorf. Sie ist Herausgeberin von bislang dreizehn Anthologien, u. a. im dtv: »Gedichte für Reisende« und »Weihnachtsgedichte« (beide zusammen mit Anton G. Leitner).

Die Reihe »Dichtung + Film« ist eine Kooperation des Fünf Seen Filmfestivals (www.fsff.de) / Breitwand Kinos (www.breitwand.com) mit der Zeitschrift DAS GEDICHT(www.dasgedicht.de). Mit freundlicher Unterstützung des Landratsamts Starnberg.

Herrschaftszeiten, jetzt schlägts Dreizehn! Ein bairischer Abend mit Pfeffer – DICHTUNG + FILM im Rahmen des Fünf-Seen-Filmfestivals 2018

Thomas Grasberger spürt in seinen BR-Fernsehdokumentationen und Rundfunkfeatures sowie in seinen Büchern allen Aspekten des bairischen Lebensgefühls nach. Der hintergründige Ernst-Hoferichter-Preisträger trifft auf ein literarisches Urgestein aus dem Starnberger Fünf-Seen-Land, den Verskabarettisten und international renommierten Poesieherausgeber Anton G. Leitner. Wenn die beiden Münchner Turmschreiber loslegen, bleibt keine Lederhose ungeschoren …

Anschließend:
Servus Bayern
D 1977 / 1978 | 84 Min. | Buch und Regie: Herbert Achternbusch | Darsteller: Herbert Achternbusch, Annamirl Bierbichler, Josef Bierbichler, Franziska Walser u. a.

In Achternbuschs poetischer Tragikomödie flieht ein gescheiterter Dichter und Wilderer nach Grönland, um der Kälte im weiß-blauen Freistaat zu entkommen.

Ort: Kino Breitwand Gauting
(Bahnhofplatz 2, 82131 Gauting)
Termin: Freitag, 7.9.2018, Beginn 19.30 Uhr
Eintritt: € 15,-
Kartenreservierungen unter www.fsff.de

Thomas Grasberger (54) lebt als Journalist und Autor in München. In seinen Radiofeatures, Fernsehdokumentationen und Büchern wie »Gebrauchsanweisung für München«, »Grant – der Blues des Südens«, »Stenz – die Lust des Südens« und »Flins – das Geld des Südens« spürt er dem bairischen Lebensgefühl nach. Grasberger wurde 2017 mit dem »Ernst-Hoferichter-Preis« ausgezeichnet und im selben Jahr zur renommierten Literatenvereinigung »Münchner Turmschreiber« berufen.
Internet: www.thomasgrasberger.de

Anton G. Leitner, geboren 1961 in München, publizierte bislang zwölf lyrische Einzeltitel, zuletzt »Schnablgwax. Bairisches Verskabarett«. In seinem Verlag in Weßling gibt er seit 1993 die buchstarke Zeitschrift DAS GEDICHT heraus, die von Herbst 2017 bis Sommer 2018 bundesweit ihr 25. Jubiläum feierte. Darüber hinaus edierte er über vierzig Anthologien. Mit seiner Sammlung »Ois is easy. Gedichte aus Bayern« hat er den weiß-blauen Freistaat lyrisch neu kartografiert. Zuletzt erschienen bei Reclam seine Sammelbände »Heimat. Gedichte« (2017) und »Der Himmel von morgen. Gedichte über Gott und die Welt« (2018). Leitner wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem V. O. Stomps-Preis der Stadt Mainz, dem Bayerischen Poetentaler und zuletzt mit dem Tassilo-Kulturpreis der Süddeutschen Zeitung (2016). Er ist Mitglied der Münchner Turmschreiber.
Internet: www.AntonLeitner.de und www.dasgedicht.de

Die Reihe »Dichtung + Film« ist eine Kooperation des Fünf Seen Filmfestivals (www.fsff.de) / Breitwand Kinos (www.breitwand.com) mit der Zeitschrift DAS GEDICHT(www.dasgedicht.de). Mit freundlicher Unterstützung des Landratsamts Starnberg.