Weßling, den 17. September 2009
Liebe Leserinnen und Leser,
jemandem wie mir, der sein Leben der Lyrik verschrieben hat, kann es schon angst und bange werden bei den vielen schlechten Nachrichten, leider auch für uns Büchermenschen: Das „Jahrbuch der Lyrik“ ist in Nöten, weil es der S. Fischer Verlag nicht länger machen will. Vermutlich scheut man dort das finanzielle Risiko. Außerdem, so liest man, könnte der Schweizer Lyrikverleger Urs Engeler nicht in der bisherigen Art und Weise weiterarbeiten, da sein Mäzen kein Geld mehr zuschießen könne. Und während kookbooks-Verlegerin Daniela Seel noch um Hilfe ruft und aller Orten verkündet, dass die Kunst Mäzene braucht, kündigt Verlegerkollege Ammann aus Zürich an, im Sommer 2010 das Handtuch zu werfen. Die Zeitschrift „Literaturen“ soll künftig nur noch zweimonatlich erscheinen.
Die gegenwärtige „Marktsituation“ für Lyrik bzw. anspruchsvolle Prosa im Buchhandel beschreibt die erfahrene Cheflektorin eines großen deutschen Verlages derzeit als „geradezu hermetisch“.
„Wenn es so weiter geht, bist Du mit DAS GEDICHT bald allein auf weiter Flur“, mailt mir dieser Tage ein Journalist und wünscht „viel Glück für die Zukunft“. Natürlich könnte ich jetzt darüber räsonieren, warum es ausgerechnet im „Land der Dichter und Denker“ so weit kommen konnte.
Und ich würde mich dabei zweifellos erregen über jene maßlose Gier der großen und kleinen Spekulanten, die alle davon geträumt haben, das (virtuelle) Geld für sich arbeiten zu lassen, anstatt selber ranzuklotzen. Ich würde mich ärgern über unsere überforderten Volksvertreter in den Aufsichtsgremien, allesamt gewieft und hellwach, wenn es um den Erhalt der eigenen Macht geht, aber seltsam verschlafen und gutgläubig bei der Ausübung ihrer Kontrollpflichten. Aber ich muss die Situation konstruktiv meistern. Zorn hilft mir nicht viel weiter.
Unter diesen schwierigen Umständen ist es mit dem Glückwünschen allein auch nicht getan. Ich selbst habe in diesem Jahr wirklich alles getan, was ich tun konnte, um die neue GEDICHT-Ausgabe Nr. 17 mit mehr Gedichten denn je präsentieren zu können. Und mit mir tat es der „engste Kreis“: Meine Mitarbeiterin Gabriele Trinckler, die seit nunmehr 10 Jahren bei mir beschäftigt ist, meine Frau Felizitas, mein alter Freund und literarischer Weggefährte Friedrich Ani, dem ich zum ersten Mal vor fast 30 Jahren begegnet bin. Er war damals noch als Lokalreporter für eine Münchner Tageszeitung unterwegs, aber seine eigentliche Liebe galt der Lyrik, die er eifrig verfasste und bei jeder Gelegenheit verteidigte (die Lyrik war bei ihm lange vor den Krimis da). Ani nahm seinerzeit meinen ersten öffentlichen Auftritt kritisch unter die Lupe, was zu einem streitbaren, aber überaus fruchtbaren Dialog zwischen uns führte, der bis heute andauert.
„Dichte, denn die Welt ist leck“, hieß unserer erstes gemeinsames Lyrikprojekt, das wir Mitte der 80er-Jahre realisierten – und noch heute veranlasst uns dieser mottohafte Titel bisweilen zu scherzhaften Wortspielen wie „Leck mich, denn die Welt ist dicht“. Viel hat sich seitdem getan. Wir sind der Lyrik treu geblieben. Friedrich Ani ist heute ein international bekannter Schriftsteller. Seine Figuren, die Kriminalkommissare Tabor Süden oder Polonius Fischer zum Beispiel, begegnen uns im Fernsehen oder Kino. Sie haben, wie Ex-Mönch Polonius Fischer, einen unverkennbaren Hang zum Philosophischen und Poetischen, und – was Wunder – auch zur Musik von Bob Dylan. Ihr Erfinder Friedrich Ani beherrscht die Poesie des Verschwindens wie kaum ein anderer. Und er besitzt ein feines Gespür für all das, was uns in Deutschland Angst machen kann oder könnte: „German Angst“ heißt eines seiner bekanntesten Bücher.
Als wir im Juni 2008 beschlossen, gemeinsam eine GEDICHT-Nummer herauszugeben, waren wir uns relativ schnell über das Thema einig: Angst. Dies mag vielleicht ein wenig überraschen, denn seinerzeit sprach kaum jemand von einer Rezession oder gar Weltwirtschaftskrise. Dabei gab es alarmierende Signale: In den USA waren die ersten Banken und Versicherungen ins Straucheln geraten. Aber die US-Administration beschwichtigte, betätigte ihre Geldpumpen, woraufhin bei den globalen Lehmann-Brüdern & Consorten wieder die Champagnerkorken knallten – und selbst die Berater unserer heimischen Sparkassen und Banken durften einmal mehr auf Kosten ihrer Kunden an der New Yorker Pulle nippen. Fast schien es uns so, als ob immer mehr junge Menschen versuchten, sich der rauschhaften Gier jener omnipotenten Nadelstreifenkaste durch Flucht zu entziehen: Sei es, dass sie in virtuelle Chatrooms fliehen oder in Computerspiele, Alkohol, Gewalt und sexuelle Exzesse. Trübe Aussichten: Die jüngste Generation betäubt sich mangels Zukunftsperspektiven, während man die Ältesten im Minutentakt pflegt, damit kontingentierte Budgets nicht überschritten werden. Derweil versuchen andere schon, sich mit Sprengstoff ins Paradies zu bomben. All das erinnert durchaus an spätrömische Tänze auf dem Vulkan und konnte schon immer für einen unruhigen Schlaf sorgen oder sich in unserer Einbildung zu einer überlebensgroßen Angst steigern.
Nun wollten Friedrich Ani und ich aber keine „Geisterbahn der Lyrik“ einrichten. Auch wenn die ganze Bandbreite der Furcht – möglichst anhand von Gedichten – lyrisch aufgezeigt werden sollte: Es ging uns vor allem darum, Verse zu präsentieren, die etwas riskieren, Lyrik mit dem Mut zum Übermut und Sprachspiel, poetische Aufbrüche zum Lebendigsein.
„Fürchte dich nicht – spiele!“ wählten wir als Motto für die Ausgabe und setzten mit 99 Gedichten (überwiegend Originalbeiträge) von 77 zeitgenössichen Autoren aus dem ganzen deutschen Sprachraum einen deutlichen Schwerpunkt auf den Lyrikteil. Unsere Auswahl haben wir generationsübergreifend getroffen. Das Spektrum reicht vom fünfjährigen Yunus aus Berlin-Kreuzberg über Jungautor Leander Beil (geboren 1992), der hier als Lyriker debütiert, bis zur Wiener Übermutter der deutschsprachigen Poesie, Friederike Mayröcker (Jahrgang 1924). Im Essayteil wollen wir die verschiedenen Facetten der Angst sowohl aus der Sicht von Poeten (vgl. Nicola Bardola: „Verse im sinnlichen Spiel mit dem Tod“), als auch aus der Perspektive eines engagierten Theologen, eines erfahrenen Pädagogen und eines international renommierten Klangkünstlers beleuchten.
Selbstverständlich verfolgen wir für DAS GEDICHT auch weiterhin die laufende Lyrikproduktion deutschsprachiger Verlage kritisch. Gedichtbände, insbesondere von neuen Autoren, sind im Krisenjahr 2009 fast vollständig aus den Programmen der großen Häuser verschwunden. Da derzeit auch viele kleine Verlage um ihr Überleben kämpfen, sind 2009 insgesamt deutlich weniger Lyriktitel erschienen als in den Vorjahren. Wir werden Ihnen in der kommenden GEDICHT-Folge Nr. 18 besonders interessante und nachhaltige Lyriknovitäten aus dem Erscheinungszeitraum 2009/2010 vorstellen.
Besonders hinweisen möchte ich Sie in diesem Zusammenhang schon auf die neue, mutige Lyrikreihe „für neugierige Kinder“, die der Kölner Boje-Verlag gestartet hat. Sie ist auch in der vorliegenden GEDICHT-Folge angezeigt. Soweit mir die schwierigen Zeitumstände die nötige Zeit dafür lassen, werde ich Sie an dieser Stelle über zwischendurch immer wieder über wichtige Entwicklungen aus dem lyrischen Betrieb auf dem Laufenden halten.
Bei allem berechtigten Anlass zur Sorge beglückt es mich, dass ich ausgerechnet in diesem von Krisen erschütterten Jahr 2009, das mich nahezu ununterbrochen auf Trab hält, ungewöhnlich viele Projekte realisieren konnte.
Die Gesundheitsausgabe Nr. 16 von DAS GEDICHT bekam eine Reihe von guten Kritiken, was dazu führte, dass sie bereits 3 Monate nach dem Erscheinen ausverkauft war. Um die Ausgabe weiterhin lieferbar zu halten, ließ ich im Januar 1000 Exemplare davon nachdrucken, was angesichts der aufwändigen Ausstattung (Vierfarbendruck) ein teures Vergnügen wurde.
Im Frühjahr 2009 erschien im Deutschen Taschenbuch Verlag meine Anthologie „Ein Nilpferd schlummerte im Sand. Gedichte für Tierfreunde“, die ich zusammen mit Gabriele Trinckler edierte. Kein Geringerer als Reinhard Michl illustrierte die Sammlung. Im Juni 2009 schließlich startete im Deutschen Taschenbuch Verlag meine Serie „lyrik“, die nach dem Prinzip „vom Einfacheren zum Schwierigen“ insbesondere junge Leserinnen und Leser an Lyrik heranführen soll. Die Bände heißen „power“, „relax“ und „smile“, sind farbenfroh gestaltet und preisgünstig. Und besonders freue ich mich darüber, dass Reclam meine Lieblingsanthologie „Feuer, Wasser, Luft & Erde. Die Poesie der Elemente“, die erstmals 2003 in Reclams Universalbibliothek erschienen war, 6 Jahre später, im August 2009, noch einmal aufgelegt hat, dieses Mal sogar in bibliophiler Ausstattung (Hardcover mit Schutzumschlag).
Dies alles sind kleine Lichtstreifen am Horizont und sie ermutigen mich, weiterhin alle geistigen und materiellen Mittel, über die ich verfüge, einzusetzen, um die Zeitschrift DAS GEDICHT als unabhängiges und plurales Organ für die deutschsprachige Lyrik zu erhalten. Sie steht im Zentrum meiner Arbeit als Verleger und Herausgeber und ist ein direkter Draht zu den Lesern und Autoren von Gedichten. Allen, die mich dabei unterstützen, insbesondere unseren Abonnentinnen und Abonnenten, danke ich auch an dieser Stelle ganz herzlich dafür.
Ich möchte Sie bei dieser Gelegenheit noch auf zwei Präsentationsveranstaltungen zur neuen GEDICHT-Ausgabe Nr. 17 einladen:
Am Dienstag, den 10. November 2009 lese ich um 19 Uhr in Wien zusammen mit Friedrich Ani, Alex Dreppec, Gerhard Rühm und Mario Wirz in der Alten Schmiede (Kunstverein Wien, Literarisches Quartier, Schönlaterngasse 9) aus „Fürchte dich nicht – spiele!“ und diskutiere mit Kollegen und Publikum über unsere Arbeit.
Am Dienstag, 1. Dezember 2009, lese ich um 20 Uhr in München zusammen mit Friedrich Ani, Nicola Bardola und anderen im GAP (Cafe / Bar / Restaurant, Goethestr. 34, 80336 München) aus „Fürchte dich nicht – spiele!“. Unter der Moderation von Nicola Bardola diskutieren Friedrich Ani und ich über die Arbeit an der gemeinsamen GEDICHT-Ausgabe. Und selbstverständlich lesen wir aus der Ausgabe, zusammen mit unseren Autorenkollegen. Und feiern im Anschluss.
Herzlichen Grüße,
und bis bald,
Ihr ANTON G. LEITNER