Das späte Geständnis von Günter Grass

Liebe Besucherinnen und Besucher,

Günter Grass (Jahrgang 1927), der sich zuletzt an der Ausgabe Nr. 12 (Erotik-Special II: „Nackt. Leibes- und Liebesgedichte“) unserer Zeitschrift DAS GEDICHT mit Lyrik beteiligte, bekennt in seiner demnächst erscheinenden Biographie, mit 17 Jahren Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein.

Nun verursacht es mir als GEDICHT-Herausgeber natürlich ein flaues Gefühl bei dem Gedanken, dass in unserer Zeitschrift – ohne unser Wissen zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Abdruck – ein SS-Angehöriger publiziert hat. Die Tatsache, dass Grass mit 17 Jahren als noch nicht einmal Volljähriger zu einer SS-Einheit eingezogen wurde und als Vertreter des „letzten Aufgebots“ keinen Schuss mehr abgefeuert haben soll, relativiert jedoch dieses ungute Gefühl.

Ein viel größeres Problem habe ich aber mit dem Zeitpunkt der Grass’schen Enthüllung im zarten Alter von 79 Jahren. Warum erfolgt sie ausgerechnet kurz vor dem Erscheinen seines neuen Buches, günstig platziert am Ende des so genannten journalistischen „Sommerloches“?

Ich selbst bin vor fast 25 Jahren als junger Autor und Mitarbeiter des Feuilletons einer Münchner Tageszeitung mehrfach Hans Werner Richter, dem Gründer der Gruppe 47, begegnet, und pflegte bis kurz vor seinem Tod enge Kontakte zu Walter „Shortie“ Kolbenhoff, in dessen Wohnung in der Münchner Schellingstraße bekanntlich die ersten Tagungen der Gruppe 47 stattgefunden haben. Nun ist die Karriere von Günter Grass sehr eng mit der Förderung durch das Netzwerk der „Gruppe 47“ verbunden. So wie ich Richter, Kolbenhoff und andere führende Mitglieder der Gruppe persönlich kennen gelernt habe, wage ich zu behaupten, dass Grass in dieser Gruppe nur sehr schwer ein Bein auf den Boden gebracht hätte, wenn sie von seiner Zugehörigkeit zur Waffen-SS gewusst hätte.

Dass Günter Grass seine Zugehörigkeit zur Nazi-Elitetruppe vielleicht auch aus strategischen (und damit opportunistischen) Gründen so lange verschwiegen hat, ist, angesichts seines hohen moralischen Anspruchs, für mich eine nur schwer zu schluckende Kröte. Der Gedanke aber, dass er jetzt vielleicht auch aus strategischen Gründen sein spätes Geständnis ablegt, um Aufmerksamkeit auf sein neuestes Werk zu lenken, droht, mein bisheriges Grass-Bild ernsthaft zu beschädigen. Bislang war ich stolz darauf, dass unser „Nationaldichter“ hin und wieder im GEDICHT publizierte.

Ich werde auf alle Fälle die von ihm selbst initiierte Debatte um seine Person aufmerksam und kritisch weiter verfolgen.

Mit freundlichen Grüßen
verbleibe ich für heute

Ihr Anton G. Leitner

DAS GEDICHT, Herausgeber