Was will mir der Herr Nachbar mit der Säge sagen?

von Anton G. Leitner
Ich bin
Stärker als der
Wilde
Wuchs.
Ich säge
Den Baum ab
Auf dessen Ast
Du nie mehr
Sitzen wirst.
© 2006 lichtung verlag GmbH, Viechtach
Aus: AGL. Im Glas tickt der Sand. Echtzeitgedichte 1980 – 2005.

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http://youtu.be/O4llzf3AFE0

„Ortsbildverschönerung“ in Weßling

Weßling-Buchen-weg-Weg_851„Buchen-weg-Weg” (ehemals Buchenweg) in Weßling oder wo rohe Nachbarn “planvoll” walten: Ein Arbeiter des „Zweckverbands für das soziale Wohnen im Landkreis Starnberg” sägt am Montagvormittag (18.3.2013) auch noch die letzten Stümpfe der vier ca. 50 Jahre alten Hainbuchen vor unserem Anwesen weg, damit auch wirklich kein Grün mehr die Schaffung weiterer Stellplätze behindern kann (vgl. Auskunft des Weßlinger Bürgermeisters Michael Muther gegenüber dem Starnberger Merkur vom 16./17.3.2013).
Ich wohne mit meiner Familie bisher seit einem halben Jahrhundert in Weßling am Buchenweg. Als wir unser erstes Anwesen am Buchenweg errichteten, gab es in unserer Umgebung ausschließlich Einfamilienhäuser. Dann kam der bezeichnete Zweckverband und errichtete mitten im benachbarten Mischwald sukzessive vier Wohnblöcke. Seit meiner Kindheit erlebe ich, wie dieser Verband eine Buche nach der anderen auf seinem Grundstück mit Motorsägen niedermachen lässt. Das Geräusch der Motorsägen ist eine gravierende, ja fast schon traumatische Kindheitserfahrung für mich geworden. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass uns in 50 Jahren einmal ein Vertreter des Zweckverbands für das soziale Wohnen über bevorstehende Radikalfällungen informiert hätte. Bis heute bin ich fassungslos über dieses schonungslose Vorgehen vor unserer Haustüre und habe alles in meiner Macht stehende getan, den Großbaumbestand auf unseren eigenen Anwesen am Buchenweg zu erhalten. Ich bin gespannt, wie lange es dauert, bis der Verband Wohnen einmal ein Management bekommt, das mit den ihm anvertrauten natürlichen Ressourcen sensibler umgeht als seine Verantwortlichen in den vergangenen fünf Jahrzehnten.

“Wir sind Päpstin!” Viel dekorierte deutsche Autorin Herta Müller mit Nobelpreis ins Ziel eingelaufen

 

Liebe Leserinnen und Leser,

als am Dienstag, den 7. Oktober 2009 Literaturpreisskeptiker Eckard Henscheid im Gartensaal des Münchner Prinzregententheaters den bayerischen Jean-Paul-Preis für sein Lebenswerk entgegennahm, thematisierte der solchermaßen Geehrte in der Dankesrede sein ambivalentes Verhältnis zu Preisvergaben dieser Art. So kann ich Henscheid nur beipflichten, wenn er registriert, dass es immer mehr Literaturpreise gibt. Und diese inflationären und teilweise üppig ausgestatteten Preise werden seltsamerweise zum überwiegenden Teil an die immer gleichen Schriftsteller vergeben. Denn wenn ein Literat schon fünf Preise erworben hat, kann die Jury nichts falsch machen, wenn sie ihm auch noch den sechsten Preis verleiht und so weiter und so fort.

Kaum eine Jury traut sich heute noch ein wirklich eigenes Urteil zu, man setzt lieber auf „bewährte Namen“, um auf der sicheren Seite zu bleiben. Diese durch fehlenden Mut bestimmte Vergabepraxis von Kunst- und Kulturpreisen führt, ein wenig überspitzt gesagt, dazu, dass „clevere“ Autorinnen und Autoren sich strategisch genauestens über die Zusammensetzung von Jurys informieren und schon im Vorfeld einiges unternehmen, um entsprechende Juroren für sich und ihr Werk zu erwärmen. Wer einmal selbst in Jurys mitgewirkt hat, kann über dieses Phänomen einige Anekdoten zum Besten geben, auch über das zwischen Demut / Anbiederung und Hochmut / Distanz chargierende Verhalten von Künstlern vor und nach der jeweiligen Auszeichnung. Ich selbst meine, dass man manchen literarischen Werken hierzulande fast anlesen kann, dass sie im Hinblick auf eine spätere Preisverleihung oder Stipendienvergabe verfasst worden sind.

Und es sollte uns allen zu denken geben, dass es hierzulande einzelne Autoren gibt, die inzwischen weit mehr als 200 Literaturpreise eingeheimst haben − wenn ich Eckard Henscheid richtig verstanden habe, gehört dazu auch allen voran Günter Grass.

Nun ist es mir, als ich erfahren habe, dass die deutsche Schriftstellerin Herta Müller den diesjährigen Nobelpreis für Literatur erhält, in etwa so ergangen wie nach der Wahl von Josef Kardinal Ratzinger zum Papst: Im ersten Moment habe ich mich gefreut, danach aber ist bei mir sehr schnell ein Stadium der Ernüchterung und Skepsis eingetreten. Denn mehr als einmal habe ich mich als Katholik für Entscheidungen von Papst Benedikt XVI zutiefst geschämt, seien es Äußerungen zu Homosexuellen, zur Schwangerschaftsberatung, unglückliche Berufungen von „Hardlinern“ zu Bischöfen oder Kardinälen oder Rehabilitierungen stockkonservativer Kleriker, unter ihnen ein Holocaust-Leugner, dies nur einzelne Glieder aus einer ganzen Kette von Peinlichkeiten.

Nun will ich Herta Müller nicht über einen Kamm mit Papst Benedikt scheren. Ich gratuliere ihr herzlich zum Erhalt des diesjährigen Nobelpreises für Literatur. Aber natürlich ist es erlaubt, sie als Autorin in Kontext zu setzen mit Dichtern, die den Nobelpreis für Literatur nicht erhalten haben. Unter den Lyrikern allen voran Giuseppe Ungaretti, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, unter den großen Prosaikern Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt.

Als Herausgeber der Zeitschrift DAS GEDICHT kann ich in erster Linie nur etwas zu Herta Müllers lyrischem Werk sagen, und stelle aus aktuellem Anlass Auszüge aus unserer Kritik zu Herta Müllers Gedichtband DIE BLASSEN HERREN MIT DEN MOKKATASSEN (Carl Hanser Verlag, München und Wien 2005) hier online (Quelle: DAS GEDICHT Nr. 14, Weßling 2006):

 Müller„Ein literarisches und optisches Vergnügen, Gedicht und Collage zugleich“ verspricht der Verlag auf dem Umschlag dieses vierfarbig gedruckten Gedichtbandes und versteigt sich schließlich sogar zu der Aussage, es handle sich dabei um „ein Wunderwerk der poetischen Phantasie“. Eine Zeit-Kritikerin sekundiert: „Diese luftigen, surreal verspielten Texte sind schön, weil ihnen die Erschütterung spürbar vorausgeht.“ Vielleicht haben sich manche Juroren von der großen Lippe des Klappentextes betören lassen; denn nach Veröffentlichung von Müllers BLASSEN HERREN MIT DEN MOKKATASSEN setzte ein warmer Preisregen für die Autorin ein: vom Berliner Literaturpreis über den Würth-Preis für Europäische Literatur bis hin zum Walter-Hasenclever-Literaturpreis reichte der Segen. Nun kann man der 1953 im deutschsprachigen Nitzkydorf (Rumänien) geborenen Schriftstellerin ihr Geschick, mit einem relativ schmalen literarischen Werk maximale Wirkung zu erzielen, nicht zum Vorwurf machen, im Gegenteil. Ihr aktuelles „Wunderwerk“ hätte jedoch schon vor Jahrzehnten gestandenen Dadaisten lediglich ein müdes Gähnen entlockt. Die poetische Methode dahinter ist alt, aber noch immer populär. Besonderer Beliebtheit erfreut sich die sog. „Kühlschrankpoesie“, bei der vorgegebene Worte mit Magneten auf Kühlschränken fixiert werden. Seminarleiter für kreatives Schreiben schwören oft auf Herta Müllers Technik: Man greife zur Schere, schnipsle einzelne Worte aus verschiedenen Zeitschriften oder Tageszeitungen, bediene sich danach aus dem Versbaukästchen, klebe Zeile für Zeile ein Wort neben das andere – und fertig ist das Gedicht! Der Reiz, den ihre „Schnipsellyrik“ zweifellos entfaltet, liegt im Zusammenwirken von zufälligem und kalkuliertem Worteinsatz durch eine Schriftstellerin, die nicht nur mit der Schere umgehen kann: „mir tickt die Wolke / durch den Kopf und die Stadt / sitzt krötenstill morgens vor / meinem Mantelknopf“.

Wirklich überrascht war ich von der Entscheidung des Nobelpreiskomitees für Herta Müller also nicht. Aber in das unumschränkte Jubelgetöse unserer Feuilletonisten, von denen übrigens nicht wenige selbst in wichtigen literarischen Jurys sitzen, kann und will ich nicht mit einstimmen. Im Gegenteil: Mich ärgert die gerade von Henscheid beklagte Methodik der Preisvergabe, die bei regionalen Preisen beginnt und bei den ganz großen Preisen endet und bei der die ganz Großen der Literatur nicht selten leer ausgehen, etwa aus Neid, weil sie mit ihren Werken auch im Stande sind, ein großes Publikum zu begeistern, seien es Max Frisch oder Giuseppe Ungaretti, von dem manche Verse in Italien bis heute viel zitiertes Allgemeingut sind. Und wenn ich wahrnehme, dass nicht wenige Stipendien und kleinere Literaturpreise inzwischen auch gerne an die Kinder von bekannten Autoren vergeben werden (ich spare mir jetzt, sie namentlich an den Prager zu stellen, aufmerksamen Lesern werden deren Familiennamen beim Lesen entsprechender Meldungen ohnehin bekannt vorkommen), dann kann ich Henscheids indirekten Appell an Juroren, bei ihren Entscheidungen mehr Mut zu zeigen nur zustimmen. Denn nichts als das literarische Werk selbst wird letzten Endes darüber entscheiden, ob es in hundert oder tausend Jahren noch Menschen gibt, die es lesen. Homer, Horaz, Catull, Sappho & Co. haben dazu jedenfalls keinen Nobelpreis für Literatur gebraucht. Und Ernst Jandl, Giuseppe Ungaretti und Max Frisch auch nicht! 

Mit herzlichen Grüßen aus Weßling,
und vielleicht sehen wir uns ja heute Abend
um 19 Uhr im Theaterzelt „Das Schloss“ in München?
Ihr Anton G. Leitner

Unser Land kann mehr

 

Liebe Besucherinnen und Besucher,

als ich gestern vormittag wieder einmal auf dem Münchner Viktualienmarkt frisches Obst und Gemüse eingekauft habe, bin ich an etlichen Parteiplakaten zur heutigen Bundestagswahl vorbeigekommen. Während gleich drei Kleintransporter im Konvoi (besonders spritsparend) Guido Westerwelles Konterfei im Riesenformat an mir vorbeikutschierten, mit der bemerkenswerten Aussage, „Arbeit muss sich wieder lohnen“, faszinierte mich ein SPD-Parteiplakat mit dem Bildnis von deren müde lächelndem Kanzlerkandidaten Frank Walter Steinmeier. Denn es enthielt eine Aussage, die sich problemlos ergänzen lässt. „Unser Land kann mehr“, steht darauf und ich habe es gedanklich ergänzt um den Zusatz „als seine Politiker“.

Danach überquerte ich den Münchner Marienplatz. Das Rathaus war förmlich umstellt von dutzenden von Polizeifahrzeugen mit Bamberger Kennzeichen. Die CSU bereitete dort ihre „Abschlussveranstaltung zum Bundestagswahlkampf 2009“ vor.

Ich sah mehr aus Bamberg herbeigekarrte Polizisten in martialisch wirkenden Kampfanzügen als Publikum und fragte mich, wieso die Errichtung einer polizeilichen Wagenburg nötig ist, wenn einige Politiker ihre Sprechblasen absondern. So etwas müsste doch auch umweltverträglicher und kostengünstiger zu bewerkstelligen sein, vielleicht übers Internet? Und die Geschäftsleute rund ums Münchner Rathaus haben mir alle ihr Leid geklagt, dass vor lauter Polizeifahrzeugen ihre Läden zugestellt seien, sogar die Bürgersteige, und kein Mensch mehr bei ihnen einkaufe.

 „Unterwegs für Sie zur Krisenbewältigung“ oder so ähnlich stand auf einem geparkten Parteimobil mit einer diagrammartigen Kurve, die nach oben zeigte. So manche Politiker haben in den Aufsichtsräten von etlichen Banken verschlafen, was dort vor sich geht, und damit letztendlich selbst ein gerüttelt Maß zur selbigen Krise mit beigetragen, deren „Bewältigung“ sie sich jetzt auf die Fahnen schreiben. Dabei verstärken sie die Krise noch, indem sie verkaufsbereiten Händlern die Schaufenster zustellen lassen. Und während sie vom Sparen sprechen, produzieren sie weiter Kosten, beispielsweise durch Herankarren von Polizisten aus der bayerischen Provinz, die sogar ihren eigenen Polizeikrankenwagen mitgebracht hatten. Sollten diese Polizisten die bayerischen Politiker vor ihrem Wahlvolk beschützen?

Und während über eine überdimenisonierte Lautsprecheranlage modern wirkende Musik erschallte, sah ich auf einem Großbildschirm ein offensichtliches Mitglied der Jungen Union tänzelnd mit dem Mikro herumspringen. Der smarte Jüngling im Anzug mit gegeeltem Haar wirkte dabei wie ein ausgeflippter Investmentberater, verkündete aber dann zu meiner Beruhigung mit staatstragender Stimme: „Es geht gleich los, meine verehrten Damen und Herren“. Und während er sprach und ich immer schneller, fast fluchtartig, den Marienplatz verließ, dachte ich mir, das alles hätten sie sich wirklich sparen können, vor allem im Interesse der nächsten Generation, die für all dies die Zeche wird bezahlen müssen.

Wie auch immer diese Wahl ausgeht, es wird heute abend jedenfalls wieder nur Gewinner geben und die einzigen Verlierer werden einmal mehr wir sein, die Wähler, fürchtet augenzwinkernd Ihr
mangels Auswahl wahlmüder
Anton G. Leitner,
herzlich grüßend.

„Schluss mit Solidarität!“

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Weßling, den 20./21. September 2009

Liebe Leserinnen und Leser,

auch am Sonntag bin ich wieder einmal in meinem Verlag und dort mit der Auslieferung der druckfrischen Ausgabe von DAS GEDICHT Nr. 17 beschäftigt. Und einmal mehr gehe ich nur in Gedanken mit meiner Mittelschnauzerin Nelly um den idyllischen Weßlinger See spazieren, der nur wenige hundert Meter von meinen Verlagsräumen entfernt liegt. Hat aber auch vielleicht sein Gutes, dann muss ich mich nicht über das aggressive Plakat eines Milchbauern ärgern, der, wie ein Blick in die einschlägige Suchmaschine zeigt, allein schon im vergangenen Jahr von der EU Subventionen in einer Höhe bezogen hat, die an das Jahresgehalt eines Normalverdieners grenzen.

Nun bin ich der Letzte, der den Milchbauern keine fairen Preise für ihre Milch zahlen möchte, aber wenn ich im Lokalteil der Süddeutschen Zeitung lese, dass auch Milchbauern aus unserer Region Milch mit dem Güllewagen aufs Feld fahren und dort bis zu 70.000 Liter aus Protest verschütten, während anderswo auf der Welt tausende von Menschen verhungern, dann bin ich fassungslos. Und dann reut mich jeder Cent, der auch aus meinem nicht minder hart verdientem Geld „Landwirten“ wie diesen zufließt und ich ärgere mich noch mehr darüber, dass zu solchen wahnsinnigen Aktionen kein Kirchenmann oder Politiker klar und deutlich Stellung bezieht. Deshalb tue ich es wenigstens auf meinem Blog: Den Landwirten, die mit solch einer Verachtung und Respektlosigkeit mit Lebensmitteln umgehen, gehört der Geldhahn aus Brüssel abgedreht. Und zwar so schnell wie möglich.

Bevor ich mich aber noch weiter erbose, vielleicht auch, weil ich so der Auslieferungsarbeit zu entkommen hoffe, kann ich noch über erste Sofort-Reaktionen von Leserinnen und Lesern auf die neue GEDICHT-Ausgabe Nr. 17 berichten.

„Einmal ist Schluss, weil man/frau kann nicht überall mitmischen und unterstützen; es gibt leider kein Miteinander und keine Solidarität“, mailt eine Abonnentin und lässt ihrer Behauptung gleich Taten folgen, nämlich die Kündigung. „Die Mayröcker interessiert mich überhaupt nicht. Ich bin der Meinung, dass von ihren zigtausenden von Gedichten 95% geistloses und überflüssiges Geschwätz sind“, mailt mir ein anderer Leser. Eine weitere Leserin erkundigt sich nach unseren Aufnahmekriterien, weil sie eigentlich der Meinung sei, dass es auch ihre Gedichte verdient hätten, im neuen GEDICHT zu stehen.

Angesichts der Tatsache, dass in der neuen GEDICHT-Ausgabe über acht Monate Arbeitszeit stecken, tun solche Spontanreaktionen, die vielleicht auch aus der Verärgerung heraus entstanden sind, nicht selbst in der Ausgabe vertreten zu sein, natürlich sehr weh. Denn insbesondere von Kolleginnen und Kollegen würde ich mir einen respektvolleren und sensibleren Umgang mit der literarischen Arbeit anderer wünschen. Friederike Mayröcker gehört ohne jeden Zweifel zu den wichtigsten lebenden Lyrikerinnen aus unserem Sprachkreis, an ihre Wortmacht, ihren Wortschatz und ihr Reflexionsvermögen kann nur ein Bruchteil all jener Zeitgenossen, die mehr oder weniger erfolgreich Gedichte schreiben, rühren.

Ich denke, wir sind ohnehin schon eine vom Neid infizierte Gesellschaft, wir sollten es uns deshalb insbesondere als Lyriker gönnen, uns an den Texten anderer zu erfreuen und sie zu genießen. Ich lese gerne den SPIEGEL, egal, ob ich selber drinstehe oder nicht, und habe, das sei an dieser Stelle auch einmal gesagt, in den ersten zehn Jahrgängen meiner Zeitschrift DAS GEDICHT kein einziges Gedicht von mir darin veröffentlicht. Ich tat dies erst, als meine Gedichte in Standardwerke wie Das deutsche Gedicht vom Mittelalter bis zur Gegenwart“ (herausgegeben von Prof. Wulf Segebrecht) oder in „Das große deutsche Gedichtbuch“ von Professor Karl Otto Conrady aufgenommen wurden, dem ich bei dieser Gelegenheit ganz herzlich zum renommierten „Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik“ für seine Gedicht-Anthologie Lauter Lyrik – Der Hör-Conrady“ gratuliere. Conrady hat seit  jeher plural getickt, er nahm mich 2000 erstmals in seine Sammlung auf, obwohl wir gerade damals manch kritischen Disput miteinander geführt haben. Aber ein Mann wie er hat sich von solchen Differenzen nicht abhalten lassen, ohne Ansehen der Person, zu tun, was er für richtig hielt. Denn im Zentrum seiner Arbeit standen und stehen immer nur die Texte, d. h. Gedichte selbst und nicht deren Verfasser oder seine persönliche Beziehung zu ihnen. Einzig und allein so kann ein Herausgeber Bücher machen, die dann auch wirklich gelesen werden.

Aber selbstverständlich will ich Ihnen an dieser Stelle auch nicht die ersten positiven Reaktionen auf die neue GEDICHT-Folge vorenthalten. Eine Leserin war so begeistert von der lyrischen Behandlung des Themenkomplexes Angst-Gewalt und „poetische Prävention“, dass sie spontan 100 Exemplare der Ausgabe nachgeordert hat, um sie insbesondere an Gymnasien zu verschenken. Und ein Kollege aus der Buchbranche war so angetan von Ausstattung und Auswahl der aktuellen Folge, dass er für sein Haus sofort die Umschlagseite 4 von DAS GEDICHT 18 (2010) reservierte.

Mir persönlich würde es sicherlich finanziell besser gehen, wenn ich DAS GEDICHT nicht verlegen würde. Denn fast alle Mittel, die ich als Herausgeber und Autor mit anderen Projekten verdiene, fließen in die Zeitschrift. Trotzdem möchte ich keines der 17 existentiellen Arbeitsjahre missen, die ich bislang in mein Herzblatt investiert habe.

Und ich bin überzeugt davon, dass DAS GEDICHT als „Publikumszeitschrift für Lyrik“ heute notweniger ist denn je, da es nach wie vor in der Lage ist, Lyrik in die gesellschaftliche Diskussion zu bringen. Auch insoweit unterscheidet es sich von manch einem insiderhaft betriebenen Kraut-und-Rüben-Poesieprojekt im Internet. Aber selbstverständlich gibt es im Netz auch Portale für deutschsprachige Lyrik und ihre Diskussion, die seriös, jenseits des gegenseitigen Schulterklopfens, und vor allem mit redaktionellem Sachverstand betrieben werden. Allen voran der von Andreas Heidtmann verantwortete Poetenladen.

Nachtrag vom 21. September 2009: Einen etwas junggermanistisch angehauchten Streifzug durch die Lyrik im Netz unternahm dieser Tage übrigens die Online-Ausgabe der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT. Auch wenn ihr Flanuer offensichtlich einäugig (d. h. mit  mindestens einer literaturbetriebsbedingten Scheuklappe) unterwegs ist, bestätigt er im Wesentlichen meine “Kraut & Rüben-These” – wobei er im Bezug auf den Poetenladen auf eine andere Wertung kommt als ich. Jedenfalls ist es amüsant, die mit ins Netz gestellten Kommentare zu lesen. Irgendwie erinnern sie an eine Auseinandersetzung unter frühpensionierten Laubenkolonisten oder an den Protest von Milchbauern (siehe oben).

So, jetzt aber gleich wieder zurück an den Packtisch und bloß nicht die Bodenhaftung verlieren 😉

Herzliche Grüße aus Weßling
und bald wieder an dieser Stelle
Ihr Anton G. Leitner

Bürger als Bauernopfer

Öffnung des Flughafens Oberpfaffenhofens (Weßling)
für Geschäftsflieger bedroht eine der schönsten Regionen Deutschlands

Liebe Besucherinnen und Besucher,

mitten in der Über-Arbeitsphase für die nächste Ausgabe von DAS GEDICHT habe ich mit Entsetzen die Entscheidung der Regierung von Oberbayern zur Kenntnis genommen, den Sonderflughafen Oberpfaffenhofen (Weßling) für den Geschäftsflugverkehr zu öffnen. Der „Wunschzettel“ des Flughafenbetreibers wurde, wie es die Süddeutsche Zeitung (SZ) heute in ihrer Starnberger Landkreisausgabe kommentiert, nahezu ohne Abstriche genehmigt.

Die gestrige Entscheidung der Regierung von Oberbayern ist ein Schlag ins Gesicht aller Bürgerinnen und Bürger, die im Westen von München leben und bedroht eine der schönsten Naturlandschaften Deutschlands. Denn Oberpfaffenhofen liegt inmitten des idyllischen Fünfseenlandkreises Starnberg. Hier leben traditionellerweise viele Künstler, für die Ruhe eine Grundvoraussetzung ist, um kreativ arbeiten zu können. Aus demselben Grund haben sich auch etliche High-Tech-Unternehmen im westlichen Landkreis Starnberg angesiedelt. Die barocke Schönheit dieser Landschaft, in der sich sanfte Hügel mit Badeseen abwechseln, zieht traditionell viele Naherholungssuchende aus München und Touristen aus aller Welt an. Auch Kloster Andechs verdankt einen Teil seines Charmes der Einbettung in diese reizvolle Umgebung.

Wer sich auf der Großdemonstration mit rund 5.000 Demonstranten am vergangenen Sonntag in Weßling mit offenen Augen umgesehen hat, konnte unschwer erkennen, dass sich dort keine „linken Spinner“ versammelt haben. Vielmehr reichten sich in der Menschenkette rund um den Weßlinger See Bürgerinnen und Bürger aus allen Bevölkerungsschichten, vom Bauer bis zum ehemaligen Präsidenten des Bayerischen Landeskriminalamtes, Hermann Ziegenaus, die Hände. Die Veranstalter, die diese Demonstration gegen die Erweiterung des Sonderflughafens Oberpfaffenhofen in ein hochkarätiges Kulturprogramm eingebettet haben, bewiesen mit ihrem friedlichen Bürgerprotest auf eindrucksvolle Weise, welches geistige Potential diese Region zu bieten hat und auf welchem kultivierten Niveau hier selbst Demonstrationen stattfinden.

Auch wenn nicht wenige lokale CSU-Politiker und Würdenträger am vergangenen Sonntag gegen die Flughafenerweiterung mitdemonstrierten, scheint sich seit den Zeiten von Franz Josef Strauß an der generellen Einstellung dieser Partei gegenüber der Luftfahrt nichts verändert zu haben. Es stellt sich deshalb, wie die Süddeutsche Zeitung schreibt, die berechtigte Frage „wie unabhängig die Regierung noch entscheiden konnte oder durfte“. Dass die Regierung von Oberbayern in ihrer Presseerklärung schreibt, sie habe den Antrag des Flughafenbetreibers „nur unter Einschränkungen genehmigt“, bezeichnet die SZ als „reinsten Hohn“.

In meiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung „FlugKunst“ beschrieb ich die bereits existente Lärmsituation in Weßling. Ich habe in den letzten 16 Jahren hier zusammen mit meinem Team so effektiv für die Lyrik arbeiten können, dass das oberbayerische Dorf Weßling, wie es der Intendant der Berliner Festspiele, Joachim Sartorius auf der Zehnjahresfeier im Literaturhaus München im Jahr 2002 formuliert hat, zum „Hauptdorf der deutschen Poesie“ geworden ist. „Das deutsche Lyrik-Imperium wird seit 15 Jahren von Bayern aus regiert“, titelt zum 15 jährigen Bestehen von DAS GEDICHT die Zeitschrift „Bayern im Buch“ des Sankt Michaelbundes (Ausgabe 2008 / 1). Auch wenn ich selbst etwas bescheidener denke, sagt die Tatsache, dass Weßling nicht selten bundesweit von Nachrichtenagenturen im Zusammenhang mit Lyrik genannt wird und immer wieder auch mit diesem Thema in den Fernsehabendnachrichten z. B. der ARD auftaucht, etwas über die Bedeutung aus, die unserer Arbeit beigemessen wird.

Angesichts des Satzes „Der Prophet gilt nichts im eigenen Land“, betrachte ich es als keine Selbstverständlichkeit, dass mich der Landkreis Starnberg vor einigen Jahren mit seinem Kulturpreis ausgezeichnet hat und ich bin ihm dafür auch dankbar. Und ich freue mich darüber, dass ich auch im Rahmen der Demonstration am vergangenen Sonntag die Gelegenheit bekam, zusammen mit dem Schauspieler Peter Weiss mit Gedichtbeiträgen gegen die Erweiterung des Geschäftsflughafens zu protestieren und werde in dieser Beziehung weiter mit meinen Mitteln zur Stelle sein, wenn ich gebraucht werde.

Ob für mich der Landkreis Starnberg längerfristig der Mittelpunkt meines (Arbeits-)Lebens bleiben wird, kann ich heute noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich denke ernsthaft Alternativen an und bin sicherlich nicht der einzige Arbeitgeber, der sich diesbezüglich Gedanken macht.

Dass wegen des zweifelhaften Profites einiger weniger die Bürgerinnen und Bürger einer der schönsten Regionen Deutschlands als Bauernopfer der (im Übrigen wenig zukunftsträchtigen) Flugzeugbranche verschaukelt werden sollen, halte ich für völlig unverzeihlich. Es ist ja hinreichend bekannt, welche Partei hierzulande für die operativen Entscheidungen als Regierungspartei verantwortlich ist. Und angesichts solcher Erfahrungen, die viel über deren Demokratieverständnis aussagen, ist es jetzt wirklich an der Zeit, dass sie abgelöst wird. Im September 2008 besteht dazu erstmals eine realistische Chance.

Ich bin heute traurig und frustriert und habe eine schlaflose Nacht hinter mir. Die gestrige Entscheidung der Regierung von Oberbayern ist ein schwarzer Tag für die Gemeinde Weßling und ein schwarzer Tag für den ganzen Landkreis Starnberg. Ein schwarzer Tag auch für all jene, die hier geistig arbeiten müssen, ein schwarzer Tag also auch für die deutsche Lyrik. Dass die Erweiterung des Flughafens auch die hiesigen Immobilien entwertet und damit auch meine eigene Altersvorsorge gefährdet, ist ein Aspekt, der mich ganz privat betrifft.

Aber ich denke, wir haben alle nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Stimme. Und davon werden wir auch im buchstäblichen Sinne Gebrauch machen.

Mit herzlichen Grüßen
aus der Weßlinger Einflugschneise,

Ihr Anton G. Leitner