“Wir sind Päpstin!” Viel dekorierte deutsche Autorin Herta Müller mit Nobelpreis ins Ziel eingelaufen

 

Liebe Leserinnen und Leser,

als am Dienstag, den 7. Oktober 2009 Literaturpreisskeptiker Eckard Henscheid im Gartensaal des Münchner Prinzregententheaters den bayerischen Jean-Paul-Preis für sein Lebenswerk entgegennahm, thematisierte der solchermaßen Geehrte in der Dankesrede sein ambivalentes Verhältnis zu Preisvergaben dieser Art. So kann ich Henscheid nur beipflichten, wenn er registriert, dass es immer mehr Literaturpreise gibt. Und diese inflationären und teilweise üppig ausgestatteten Preise werden seltsamerweise zum überwiegenden Teil an die immer gleichen Schriftsteller vergeben. Denn wenn ein Literat schon fünf Preise erworben hat, kann die Jury nichts falsch machen, wenn sie ihm auch noch den sechsten Preis verleiht und so weiter und so fort.

Kaum eine Jury traut sich heute noch ein wirklich eigenes Urteil zu, man setzt lieber auf „bewährte Namen“, um auf der sicheren Seite zu bleiben. Diese durch fehlenden Mut bestimmte Vergabepraxis von Kunst- und Kulturpreisen führt, ein wenig überspitzt gesagt, dazu, dass „clevere“ Autorinnen und Autoren sich strategisch genauestens über die Zusammensetzung von Jurys informieren und schon im Vorfeld einiges unternehmen, um entsprechende Juroren für sich und ihr Werk zu erwärmen. Wer einmal selbst in Jurys mitgewirkt hat, kann über dieses Phänomen einige Anekdoten zum Besten geben, auch über das zwischen Demut / Anbiederung und Hochmut / Distanz chargierende Verhalten von Künstlern vor und nach der jeweiligen Auszeichnung. Ich selbst meine, dass man manchen literarischen Werken hierzulande fast anlesen kann, dass sie im Hinblick auf eine spätere Preisverleihung oder Stipendienvergabe verfasst worden sind.

Und es sollte uns allen zu denken geben, dass es hierzulande einzelne Autoren gibt, die inzwischen weit mehr als 200 Literaturpreise eingeheimst haben − wenn ich Eckard Henscheid richtig verstanden habe, gehört dazu auch allen voran Günter Grass.

Nun ist es mir, als ich erfahren habe, dass die deutsche Schriftstellerin Herta Müller den diesjährigen Nobelpreis für Literatur erhält, in etwa so ergangen wie nach der Wahl von Josef Kardinal Ratzinger zum Papst: Im ersten Moment habe ich mich gefreut, danach aber ist bei mir sehr schnell ein Stadium der Ernüchterung und Skepsis eingetreten. Denn mehr als einmal habe ich mich als Katholik für Entscheidungen von Papst Benedikt XVI zutiefst geschämt, seien es Äußerungen zu Homosexuellen, zur Schwangerschaftsberatung, unglückliche Berufungen von „Hardlinern“ zu Bischöfen oder Kardinälen oder Rehabilitierungen stockkonservativer Kleriker, unter ihnen ein Holocaust-Leugner, dies nur einzelne Glieder aus einer ganzen Kette von Peinlichkeiten.

Nun will ich Herta Müller nicht über einen Kamm mit Papst Benedikt scheren. Ich gratuliere ihr herzlich zum Erhalt des diesjährigen Nobelpreises für Literatur. Aber natürlich ist es erlaubt, sie als Autorin in Kontext zu setzen mit Dichtern, die den Nobelpreis für Literatur nicht erhalten haben. Unter den Lyrikern allen voran Giuseppe Ungaretti, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, unter den großen Prosaikern Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt.

Als Herausgeber der Zeitschrift DAS GEDICHT kann ich in erster Linie nur etwas zu Herta Müllers lyrischem Werk sagen, und stelle aus aktuellem Anlass Auszüge aus unserer Kritik zu Herta Müllers Gedichtband DIE BLASSEN HERREN MIT DEN MOKKATASSEN (Carl Hanser Verlag, München und Wien 2005) hier online (Quelle: DAS GEDICHT Nr. 14, Weßling 2006):

 Müller„Ein literarisches und optisches Vergnügen, Gedicht und Collage zugleich“ verspricht der Verlag auf dem Umschlag dieses vierfarbig gedruckten Gedichtbandes und versteigt sich schließlich sogar zu der Aussage, es handle sich dabei um „ein Wunderwerk der poetischen Phantasie“. Eine Zeit-Kritikerin sekundiert: „Diese luftigen, surreal verspielten Texte sind schön, weil ihnen die Erschütterung spürbar vorausgeht.“ Vielleicht haben sich manche Juroren von der großen Lippe des Klappentextes betören lassen; denn nach Veröffentlichung von Müllers BLASSEN HERREN MIT DEN MOKKATASSEN setzte ein warmer Preisregen für die Autorin ein: vom Berliner Literaturpreis über den Würth-Preis für Europäische Literatur bis hin zum Walter-Hasenclever-Literaturpreis reichte der Segen. Nun kann man der 1953 im deutschsprachigen Nitzkydorf (Rumänien) geborenen Schriftstellerin ihr Geschick, mit einem relativ schmalen literarischen Werk maximale Wirkung zu erzielen, nicht zum Vorwurf machen, im Gegenteil. Ihr aktuelles „Wunderwerk“ hätte jedoch schon vor Jahrzehnten gestandenen Dadaisten lediglich ein müdes Gähnen entlockt. Die poetische Methode dahinter ist alt, aber noch immer populär. Besonderer Beliebtheit erfreut sich die sog. „Kühlschrankpoesie“, bei der vorgegebene Worte mit Magneten auf Kühlschränken fixiert werden. Seminarleiter für kreatives Schreiben schwören oft auf Herta Müllers Technik: Man greife zur Schere, schnipsle einzelne Worte aus verschiedenen Zeitschriften oder Tageszeitungen, bediene sich danach aus dem Versbaukästchen, klebe Zeile für Zeile ein Wort neben das andere – und fertig ist das Gedicht! Der Reiz, den ihre „Schnipsellyrik“ zweifellos entfaltet, liegt im Zusammenwirken von zufälligem und kalkuliertem Worteinsatz durch eine Schriftstellerin, die nicht nur mit der Schere umgehen kann: „mir tickt die Wolke / durch den Kopf und die Stadt / sitzt krötenstill morgens vor / meinem Mantelknopf“.

Wirklich überrascht war ich von der Entscheidung des Nobelpreiskomitees für Herta Müller also nicht. Aber in das unumschränkte Jubelgetöse unserer Feuilletonisten, von denen übrigens nicht wenige selbst in wichtigen literarischen Jurys sitzen, kann und will ich nicht mit einstimmen. Im Gegenteil: Mich ärgert die gerade von Henscheid beklagte Methodik der Preisvergabe, die bei regionalen Preisen beginnt und bei den ganz großen Preisen endet und bei der die ganz Großen der Literatur nicht selten leer ausgehen, etwa aus Neid, weil sie mit ihren Werken auch im Stande sind, ein großes Publikum zu begeistern, seien es Max Frisch oder Giuseppe Ungaretti, von dem manche Verse in Italien bis heute viel zitiertes Allgemeingut sind. Und wenn ich wahrnehme, dass nicht wenige Stipendien und kleinere Literaturpreise inzwischen auch gerne an die Kinder von bekannten Autoren vergeben werden (ich spare mir jetzt, sie namentlich an den Prager zu stellen, aufmerksamen Lesern werden deren Familiennamen beim Lesen entsprechender Meldungen ohnehin bekannt vorkommen), dann kann ich Henscheids indirekten Appell an Juroren, bei ihren Entscheidungen mehr Mut zu zeigen nur zustimmen. Denn nichts als das literarische Werk selbst wird letzten Endes darüber entscheiden, ob es in hundert oder tausend Jahren noch Menschen gibt, die es lesen. Homer, Horaz, Catull, Sappho & Co. haben dazu jedenfalls keinen Nobelpreis für Literatur gebraucht. Und Ernst Jandl, Giuseppe Ungaretti und Max Frisch auch nicht! 

Mit herzlichen Grüßen aus Weßling,
und vielleicht sehen wir uns ja heute Abend
um 19 Uhr im Theaterzelt „Das Schloss“ in München?
Ihr Anton G. Leitner

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