Meinem Vater Anton Leitner gratuliere ich ganz herzlich zu seinem 80. Geburtstag am 20. Dezember 2018. Auf dass er noch unzählige Spazierrunden um seinen geliebten Weßlinger See drehen kann und sein Lieblingsgewässer viele weitere Sommer lang kreuz und quer durchschwimmen möge, und dies bei hellwachem Verstand und bester Gesundheit, versteht sich. Und natürlich habe ich für Vater, wie sich das für einen schreibenden Sohn gehört, zu diesem Anlass auch noch einige weitere Zeilen verfasst:
Die wenigsten Väter wünschen sich, dass Ihre Söhne Poeten werden – und sie haben noch nicht einmal ganz unrecht dabei, weil sie vorauszuahnen glauben, welche Finsternis eine freie Existenz als mutmaßlicher „Luftikus“ vor allem in materieller Hinsicht bedeuten kann.
Als studierter Lateiner und Altgrieche hatte mein Vater schon als Oberstufenschüler des Wittelsbacher Gymnasiums in München und später dort als Student der Altphilologie an der Ludwigs-Maximilians-Universität (LMU) die „Mathematik“ der Sprachen des klassischen Altertums durch und durch verinnerlicht, sie vom Blatt weg übersetzt und später auch noch geradezu akrobatisch in ihren modernen Varianten, mögen sie Italienisch oder Spanisch oder Neugriechisch heißen, sprechend angewandt. Als Übersetzer, Leser, Lehrer, Schnellredner im täglichen Leben wie vor mehreren Schülergenerationen. Immer wieder sind Schülerinnen und Schüler von ihm ebenfalls Altphilologinnen und Altphilologen geworden, weil ihnen Vater die Schönheit der sogenannten „alten“, in Wirklichkeit aber ewigen Sprachen so vermitteln konnte wie kaum ein anderer Lateinlehrer seiner oder seiner Vorgängergeneration. Er vollbrachte viele kleine Wunder, indem er es schaffte, jenen Funken in ihnen zu wecken, der das Feuer für ein ganzes Berufsleben entfachen kann, wobei hier mehr von Berufung als von Beruf die Rede ist. Wer von seinem Fach oder Metier so begeistert und durchdrungen ist, so dafür brennt, kann es am besten vermitteln. Und wer mit seinen Schülerinnen und Schülern eine Engelsgeduld hat, bringt sie nicht unbedingt immer für seinen eigenen Sohn auf, weil er seine Engelsgeduld schon im Klassenzimmer und im Elternsprechzimmer aufgebraucht hat und weil ein starker, widerborstiger Sohn im Vater einen raumgreifenden Rivalen sieht und der starke, raumgreifende Vater im renitenten Sohn einen Widerpart, so unbezähmbar wie er selbst, sein Alter Ego. Der stehende Ausdruck, so gehört es sich an dieser Stelle auch, geht auf den römischen Politiker und Staatsphilosophen Cicero zurück, der im Jahr 44 vor Christi Geburt in „Laelius de amicitia“ (21, 80) schrieb: „verus amicus est tamquam alter idem“ („Ein wahrer Freund ist gleichsam ein zweites Selbst“) – vielleicht gilt dies ja auch für einen echten Sohn?
Die wenigsten Väter wünschen sich, dass ihr Sohn Dichter wird, auch weil sie vielleicht Carl Spitzwegs berühmtestes Bild „Der Arme Poet“ vor Augen haben, und deshalb fürchten, ihr Spross könnte ihnen ein Leben lang auf der Tasche liegen. Und weil sie glauben, ein junger Dichter saufe und vögle und schlafe bis in die Puppen mit Puppen, die mehr das Klischee vom wilden Dichterleben lieben als bisweilen den Dichter, weil es womöglich einfach spannender ist mit einem bohemisierenden Literaten eine Nacht oder auch zwei oder auch drei oder sogar ein Jahr zusammen zu sein als mit einem lackierten Banker- oder Versicherungshengst ein langweiliges, gesichertes Leben lang. Und der Glaube an dieses Klischee würde sogar mich selbst etwas neidisch werden lassen, wenn ich ein Vater wäre und einen Sohn hätte, der schreibt, wenn ich also mein Vater wäre. Denn darf in einem Land, wie unserem, das es liebt, nach außen als „Land der Dichter und Denker“ zu firmieren, innen aber längst Pecunia auf den Thron gehoben hat, etwas, das Spaß macht, zum Beruf werden? Die Antwort lautet „Ja“, denn das belegt das ganze berufene Berufsleben von Anton Senior: Wie viel Spaß hat ihm der tägliche Unterricht mit seinen Schülerinnen und Schülern gemacht, deren Namen er allesamt bis heute noch aufzählen kann, tausende an der Zahl, und denen er allen potenziell zutraute, Generaldirektor einer Versicherung oder Bank aber auch und vor allem Ministerialbeamter zu werden – und lebenslänglich verbeamtet dann vielleicht doch bloß einem Politiker zuzuarbeiten, dessen Schuhe viel zu klein für so ein Mandat sind oder auch das Mandat viel zu groß für den Zuarbeiter.
Sei’s drum: Vater gab vor allem den Müttern und ihren Kindern und bisweilen auch den seltener bei ihm aufkreuzenden Vätern das Gefühl, dass sie die tüchtigsten und begabtesten Kinder überhaupt hätten und darüber hinaus die nettesten Eltern wären. Und wenn schon nicht die Eltern an ihre Kinder glaubten, dann wenigstens ihr Lehrer und späterer Begründer und Schulleiter des Carl-Spitzweg-Gymnasiums in Unterpfaffenhofen-Germering. Und dieser unverbrüchliche Glaube an sie und an das Gute im Menschen hat viele von ihnen tatsächlich über sich selbst hinauswachsen lassen. Dies alles, während man gleichzeitig andernorts ihren Altersgenossen vermittelte, sie seien zu dumm für die von ihren Eltern für sie gewählte Schulart und sie gehörten auf eine ganz andere Schule, im Grunde genommen „auf die Hilfsschule“, weil sie ja noch nicht mal bis drei zählen könnten, oder besser gleich in die Baumschule zum Lehrer Ast. Und von den anderswo Geprügelten haben sich einige, allen Prügelpädagogen und Kinderhassern zum Trotz, durchgebissen und wieder andere völlig verzweifelt dem Untergang ihrer Schulkarriere ergeben.
Ich selbst bin in der Schule viel zu lange viel zu wenig an Lehrer wie meinen Vater geraten und hab mich um fünf vor zwölf, sprich in der Oberstufe, noch an die schulische Spitze durchgekämpft, vom Versager zum Einserschüler, wahrscheinlich nur, um es allen zu zeigen und meinem Vater und mir selbst auch. Um dann von eben jenem – mit mir oft so ungeduldigen – Papa eines Tages, vielleicht mit Siebzehn oder Achtzehn, einen Band des italienischen Dichters Giuseppe Ungaretti unter den Christbaum gelegt zu bekommen. Spätestens damit hat er dann all das angerichtet, was er als Vater eigentlich vermeiden wollte, nämlich, dass der Wunsch seines Sohnes, ein Poet zu werden und nichts als der Poesie sein Leben zu verschreiben, übermächtig wurde, weil mich, seinen Sohn der Blitzschlag traf, als ich die Altersgedichte des 80-jährigen Dichters las, darunter „Il Taccuino del Vecchio“, die weisen aber überhaupt nicht überheblichen „Notizen des Alten“ oder Ungarettis Zyklus „Letzte Chöre für das gelobte Land“, zweisprachig, italienisch – deutsch. Wohin überall hat mich dieses mir so heilig gewordene Buch ein Leben lang begleitet, in wie vielen Situationen habe ich darin Stärkung und Trost gefunden. Das Geschenk meines Vaters hat mich ganz und gar entflammt, von Ungarettis Alterswerk aus erschloss ich mir sein Frühwerk, stieß auf seine Übersetzer Ingeborg Bachmann, Paul Celan oder Hilde Domin.
Ungarettis Frühwerk hat mich buchstäblich mindestens so mitgenommen wie seine reifen und ausgreifenderen Altersverse. Denn die frühe Lyrik des großen italienischen Dichters zeugt von allerhöchster Sprachintensität, sie entstand teilweise in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs, und darin sagt er mit wenigen Worten alles, was in einem so fürchterlichen Krieg noch in Worte gefasst werden kann. Ungaretti brachte die ganze Welt dichtend auf den Punkt und stiftete mich an, meine eigene Welt zu verdichten.
Die wenigsten Väter wünschen sich, dass ihr Sohn Dichter wird, aber warum hatte dann mein Vater in seiner Bibliothek so viele Oxfordausgaben stehen, die gesammelten Werke z. B. von Catull, Tibull und Properz, dem unvergleichlichen Dreigestirn der Römischen Liebeslyrik. Weder gekürzt noch bieder zurecht zensiert , im Gegensatz zur altbackenen Schullektüre. Ich wurde zum Querleser in Vaters Bibliothek, weil in Vaters Büchern ein Schwanz auf lateinisch mentula, also Schwanz hieß, und dies schon fast zweitausend Jahre bevor ein so großartiger Lyriker wie Charles Bukowski das Wort Schwanz wieder in den Mund nahm und exzessiv aufs Papier bannte. So hat Anton, der Ältere, mein Vater also, ungewollt oder doch unterbewusst angestoßen, dass Anton der Jüngere, sein Sohn, das geworden ist, was er werden wollte und wohl auch am besten kann: ein Poet und ein Vermittler von Poesie. Und dies aller zum Schein studierten bürgerlichen Jurisprudenz zum Trotz, weil deren Studium am ehesten klammheimliche Freiräume zum Dichten eröffnete, und trotz aller zum Schein abgelegter rechtswissenschaftlicher Scheine und dem zum Schein tatsächlich bestandenen juristischen Staatsexamen, in Vaters Augen die große Aussicht auf ein späteres Beamtenleben in zu großen oder zu kleinen Schuhen, jemand anderem zuarbeitend, fremdbestimmt, aber dafür scheinbar sicher vor allen Risiken des Lebens. Der schöne Schein ohne mitbedachte Liebe, ohne mitbedachte Berufskrankheiten, ohne mitbedachte Kolleginnen und Kollegen … Mehr Schein als Sein. Jedenfalls für einen, der die Poesie liebt.
Und dann hat Vater noch mit seinen bis heute lieferbaren Lateinlernhilfen den jungen Lyrikverlag des Sohnes vor einem Vierteljahrhundert mit angeschoben, tausende von Exemplaren davon verkauft, bis sich schließlich die Poesie des Sohnes tausendfach verkaufte.
Und dann hat er eines Tages zum Sohn gesagt: Scheiße, als Jurist hättest Du weniger arbeiten müssen, aber wahrscheinlich auch weniger Freude gehabt im Leben, wenn ich allein an Deine Freundinnen in Deinen jungen wilden Dichterjahren denke.
Tempus fugit, wie die Zeit vergeht! Jetzt ist der Sohn auch schon bald sechzig und seit fast 30 Jahren unter der Haube mit derselben Frau und arbeitet viel, vielleicht sogar noch mehr, wie der Vater gearbeitet hat, und brennt so sehr für die Sprache, wie der Vater auch für die Sprache brannte. Und so sind sie beide alt und beide jung geblieben, der Vater und der Sohn. Und sie brennen beide bis zum Schluss und sie haben beide gezündelt, um die Funken in manch anderen auch zum Feuer auflodern zu lassen, und dabei treffen sie sich heute wieder, im Brennen versöhnt.