Wenn aus der aktuellen Ausgabe von DAS GEDICHT ein Reclam-Klassiker wird: Anton G. Leitner, Lyriker und Herausgeber der Zeitschrift DAS GEDICHT, hat aus der Fülle neuer Gedichte über den heute viel diskutierten Begriff der Heimat seine Best-of-Auswahl getroffen, die er mit »klassischer« Lyrik in eine spannende Beziehung bringt.
Heimat – was ist das eigentlich? Die Orte der Kindheit, die Sprache, die man spricht, kulturelle Besonderheiten der Region, aus der man kommt – oder nur eine Projektionsfläche für (meist) melancholische Gefühle? Auf jeden Fall ist Heimat etwas sehr Individuelles. Dieser ganz persönlichen Sicht widmen sich Nora Gomringer, Ulla Hahn, Franz Hohler, Hanna Johansen, Lutz Rathenow, Frantz Wittkamp und andere in ihren Gedichten, ganz ohne verklärende »Tümelei«.
Leitner, Anton G. (Hrsg.)
Heimat. Gedichte
Hardcover
96 S.
€ 10,00 (D)
ISBN: 978-3-15-011099-7
David Westphal
Was für eine Zeit
2 totale Kriege
1 deutscher Herbst
Plötzlich Wende und
Nichts dazugelernt
Nichts gelernt
Nichts
Joachim Ringelnatz
Angstgebet in Wohnungsnot
Ach, lieber Gott, gib, daß sie nicht
Uns aus der Wohnung jagen.
Was soll ich ihr denn noch sagen –
Meiner Frau – in ihr verheultes Gesicht!?
Ich ringe meine Hände.
Weil ich keinen Ausweg fände,
Wenn’s eines Tags so wirklich wär:
Bett, Kleider, Bücher, mein Sekretär, –
Daß das auf der Straße stände.
Sollt ich’s versetzen, verkaufen?
Ist all doch nötigstes Gerät.
Wir würden, einmal, die Not versaufen,
Und dann: wer weiß, was ich tät.
Ich hänge so an dem Bilde,
Das noch von meiner Großmama stammt.
Gott, gieße doch etwas Milde
Über das steinerne Wohnungsamt.
Wie meine Frau die Nacht durchweint,
Das barmt durch all meine Träume.
Gott, laß uns die lieben zwei Räume
Mit der Sonne, die vormittags hineinscheint.
Kurt Tucholsky
Noch immer
Zunächst einmal: der Deutsche schreibt,
wenn ihm nichts anders übrig bleibt. –
Er fertigt sich für jeden Krempel
als erstes einen blauen Stempel
und gründet um den Stempel froh
ein großes Direktionsbureau.
Und das Bureau beschäftigt Damen
und trägt auch einen schönen Namen
und hat auch einen Kalkulator
und einen braven Registrator
und einen Chef und Direktoren
und vierzehn Organisatoren
und einen Pförtner für die Nacht.
Ihr fragt, was so ein Amt nun macht?
Es macht zum Beispiel Schwierigkeiten.
Denn diese muß es ja bereiten,
zu zeigen, daß es auf der Welt,
und daß es andern überstellt.
(Und all das kostet wessen Geld?)
So schwitzt nun über wunderbaren
und komplizierten Formularen
und schreibt sie voll und füllt sie aus
und dann geht artig nur nach Haus!
Und damit ist die Sache richtig.
Was macht es noch? Es macht sich wichtig.
Und es erläßt mit Schwung Erlässe
und prüft Papiere und prüft Pässe.
Verordnung folgt auf Paragraphen
»betreffend Straßenhandel mit Schafen«,
»bezüglich Alligatorenfutter« –
aber die Butter
ist für den kleinen Mann verratzt
und leider offenbar zerplatzt,
und all dies hat das Amt verpatzt.
Von dieser Sorte gibts weit über hundert.
Ihr seid darüber so verwundert?
Ach Gott, ihr müßt nicht traurig sein:
Wir bilden uns noch immer ein,
mit §§ seis getan.
Der alte dumme deutsche Wahn.
Ein Amt kann keine Nüsse knacken.
Das Leben müßt ihr kräftig packen.
Denkt an die Wirtschaft! Denkt an morgen!
Aber ihr müßt euch ja mit Ämtern versorgen.
Melanie Arzenheimer
Gelobtes Land
Wo nach
der Ankunft
die Herkunft
die Zukunft
nicht
überschattet.
Inhaltsverzeichnis
Andreas Altmann (geb. 1963) – volkseigen
Bettina von Arnim (1785–1859) – Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
Melanie Azenheimer (geb. 1972) – Gelobtes Land
Michael Augustin (geb. 1953) – Bi mi to Huus
Ulrich Beck (geb. 1964) – ostersonntag
Leander Beil (geb. 1992) – Mallorca
Ulrich Johannes Beil (geb. 1957) – Heim(at)lich
Anna Breitenbach (geb. 1952) – Alte Geschichten
Josef Brustmann (geb. 1954) – dass ich keine muttersprache habe
Jürgen Bulla (geb. 1975) – Winter ’77
Manfred Chobot (geb. 1947) – nichts als wirtschaftsflüchtlinge
Hans-Jürgen Döring (geb. 1951) – C’est dans la boîte
Nikolaus Dominik (1951–2012) – Biergarten
Richard Dove (geb. 1954) – Ich bin ein Bogotano
Ulrike Draesner (geb. 1962) – für münchen
Andreas H. Drescher (geb. 1962) – Großmutter beim Bohnenschälen
Joseph von Eichendorff (1788–1857) – (1) Kaiserkron’ und Päonien rot – (2) Vorbei
Marko Ferst (geb. 1970) –Immer im Herbst
Christian Futscher (geb. 1960) – Was mir als Erstes einfällt
Thomas Glatz (geb. 1970) – Oberostendorf
Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) – Die Lustigen von Weimar
Nora Gomringer (geb. 1980) – Heimat
Helmut Haberkamm (geb. 1961) ¬ Derhamm bis dordhinaus
Annette Hagemann (geb. 1967) – nicht rio
Ulla Hahn (geb. 1946) – Muttersprache
Thomas Hald (geb. 1967) – mining, berggasse 6
Heinrich Heine (1797–1856) – (1) Mein Kind, wir waren Kinder – (2) Nachtgedanken
Dieter Höss (geb. 1935) – Qual nach Wahl
Franz Hohler (geb. 1943) – Oerlikon
Arno Holz (1863–1929) – Zwischen Gräben und grauen Hecken
Jan-Eike Hornauer (geb. 1979) – Abgrenzung
Nancy Hünger (geb. 1981) – Kamelit
Hanna Johansen (geb. 1939) – Heimat
Erich Kästner (1899–1974) – (1) Kleine Führung durch die Jugend – (2) Vorstadtstraßen
Mascha Kaléko (1907–1975) – (1) Auf einer Bank – (2) Sozusagen ein Mailied
Klabund (d. i. Alfred Georg Hermann Henschke; 1890–1928) – (1) Ein Bürger spricht – (2) Oberammergau in Amerika
Jan Koneffke (geb. 1960) – Kaprun
Gerhard C. Krischker (geb. 1947) – so geeds scho oo
Matthias Kröner (geb. 1977) – Dir gehört ja nichts
Fitzgerald Kusz (geb. 1944) – nachbann
Axel Kutsch (geb. 1945) – Umklammerung
Stan Lafleur (geb. 1968) – Jägerzaunsonate
Else Lasker-Schüler (1869–1945) – Heimweh
Anton G. Leitner (geb. 1961) – KZ-Rosl
Maik Lippert (geb. 1966) – Von Mostindien hörte ich
Ruth Loosli (geb. 1959) – Fragen zur Heimat
Sepp Mall (geb. 1955) – Im Revier
Jörg Neugebauer (geb. 1949) – Seit ich in Berlin wohne
Friedrich Nietzsche (1844–1900) – Vereinsamt
Andreas Noga (geb. 1968) – Mehr nicht
Hellmuth Opitz (geb. 1959) – Die Himmelfahrt bei Herford
Mit Genehmigung von Hellmuth Opitz, Bielefeld.
Wolfgang Oppler (geb. 1956) – Die Belohnung
Ilma Rakusa (geb. 1946) – Heimat 72
Lutz Rathenow (geb. 1952) – Gesichter in Thüringen
Karla Reimert (geb. 1972) – Die Finanzkrise entlässt ihre Kinder
Joachim Ringelnatz (d. i. Hans Bötticher; 1883–1934) – (1) Angstgebet in Wohnungsnot – (2) Die sonnige Kinderstraße – (3) Heimliche Stunde – (4) In Betrachtung eines Teppichs – (5) Stuttgarts Wein- und Bäckerstübchen – (6) Wie mag er aussehn?
Georg Ringsgwandl (geb. 1948) – Krattla von Minga
Franziska Röchter (geb. 1959) – jökeltrine, knötterpott
Georg Maria Roers Sj (geb. 1965) – Vor der Stadtmauer
Walle Sayer (geb. 1960) – Und alles Erfundene nur vorauserzählt war
Kathrin Schmidt (geb. 1958) – septemberkurzschrift
Renate Schön (geb. 1931) – Kurz in schwarze Haare greifen
Bill Soutter (geb. 1958) – Ablandiger
Ernst Stadler (1883–1914) – Fluß im Abend
Armin Stingl (geb. 1961) – Aussiedlertreck 1946
Theodor Storm (1817–1888) – Die Stadt
Ralf Thenior (geb. 1945) – Graubrotsehnsucht
Gabriele Trinckler (geb. 1966) – identität
Kurt Tucholsky (1890–1935) – (1) Deutscher Abend – (2) Home, sweet home – (3) Noch immer
Siegfried Völlger (geb. 1955) – auf der wiese sind
Frank Wedekind (1864–1918) – Heimweh
Babette Werth (geb. 1955) – behaust
David Westphal (geb. 1989) – Was für eine Zeit
Franz Wittkamp (geb. 1943) – Meinland
Archiv der Kategorie: Gedichte
Neuer Lyrikclip: »Ausufan« von Anton G. Leitner
Die beiden Altmeister Jörg Reuther und Pavel Brož (in dessen Ideenschmiede u. a. die großartigen Trailer zum fünf seen filmfestival / fsff entstanden) trafen sich am Dienstag, 29.11.2016, mit mir am Ammersee, um zwei Stunden lang bei Minusgraden die Außenaufnahmen für meinen neuen Lyrikclip »Ausufan« zu machen. Gegen den kalten Ostwind auf dem Steg half dem Protagonisten da nur noch eine doppelte Lage langer Unterwäsche… Den Fisch und das Steak haben die beiden Filmkünstler dann leider ohne mich in die Pfanne gehauen, gedreht und verspeist.
»Ausufan« ist eines meiner ernsteren »Schnablgwaxe«. Ursprünglich entstand es für den Band »Stege« (Bauer-Verlag), herausgegeben von Maren Martell, in dem es vorabgedruckt worden ist.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Ansehen!
https://youtu.be/mULZ_pF8oqE
Ich freue mich sehr über das gelungene Ergebnis und möchte Ihnen heute zusätzlich ein paar Einblicke und Behind-the-scenes-Aufnahmen von den Dreharbeiten präsentieren!
Umananda doa
So a Gschiss:
I dua, wos i wui.
Du duasd, wosd wuisd.
Wia soin ma dann amoi zam
Kemma, damid mas midnanda
Doa kenna?
Anton G. Leitner
aus:
Anton G. Leitner
Schnablgwax. Bairisches Verskabarett
edition lichtung / edition DAS GEDICHT, 2016
www.schnablgwax.de
Deutsche Lyriker-Elf kommentiert die Fußball WM 2014 online – aus Weßling
»Eine Anthologie zur Fußball-Weltmeisterschaft funktioniert nicht: Denn diejenigen, die sich für Fußball interessieren, lesen keine Gedichte«, sagte mir eine Cheflektorin eines großen Verlagshauses, als ich ihr vor zwei Jahren eine solche Sammlung zur WM 2014 vorschlug. Weil ich es genauer wissen wollte, entschloss ich mich, die Probe aufs Exempel zu machen und lud ich den jungen Münchner Lyriker Jan Eike-Hornauer ein, für dasgedichtblog.de, das Internettagebuch meiner Zeitschrift DAS GEDICHT, eine gemischte Dichter-Elf von Poetinnen und Poeten aus ganz Deutschland aufzustellen. Die Lyriker-Elf sollte möglichst zeitnah, also fast »live«, einzelne Spiele der Fußball-WM 2014 in Versen kommentieren, außerdem auch Randerscheinungen rund um die WM poetisch beleuchten. Jeder mitspielende Dichter musste sich lediglich verpflichten, mindestens ein Gedicht zur WM 2014 abzuliefern.
Bereits nach wenigen Tagen ist das Ergebnis erstaunlich: 24 Folgen mit Fußballgedichten zur WM konnten bereits erscheinen und mehrere tausend Zugriffe auf dasgedichtblog.de bzw. auf die öffentliche Fanseite von DAS GEDICHT bei Facebook sind doch schon ein respektables Vorrundenergebnis? Vor allem nach dem ersten Deutschlandspiel gerieten unsere Lyrik-Seiten zur Fußball WM 2014 im Internet wegen Überlastung an ihre Kapazitätsgrenzen.
Ist die These der Lektorin also bereits innerhalb weniger Tage widerlegt? »Ich schaue mir die Spiele nur auf Eurem Blog an«, kommentiert ein Blog-Leser am heutigen Freitag, den 20. Juni 2014 einen geteilten Fußballgedicht-Link. Ich bin jedenfalls schon ziemlich gespannt, wie es in den nächsten Tagen weitergeht mit unserer Dichter-Elf zur WM unter der Spielleitung von Jan-Eike Hornauer – und natürlich auch mit der WM selbst.
Wer sich die folgenden Verskommentare unserer Dichter-Elf zur WM anschaut, wird sehen, dass sich angenehm vom peinlichen »Boah ey«-Journalismus einzelner deutscher WM-Fernsehjournalisten unterscheiden, allen voran ZDF-Sportstudio-Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein, man denke nur an ihr peinliches Füßlein-Plantsch-Interview mit Lukas Podolski aus dem WM-Hauptquartier der deutschen Mannschaft …
Vom Leder gezogen
Verskommentare der deutschen Lyriker-Elf von dasgedichtblog.de zur Fußball WM 2014 in Brasilien:
Imma wenna Fuaßboi schaugt von Anton G. Leitner, Weßling (Folge 24)
»Hans Karl, König von Spanien, versucht vor dem sauwichtigen Spiel gegen Chile seine Mannschaft unter Druck zu setzen, die sich aber für so blöd nun wieder auch nicht verkaufen lässt« von Michael Augustin, Bremen (Folge 20)
Deutschland – Portugal von Jan-Eike Hornauer, München (Folge 19)
Messias von Franziska Röchter, Verl / NRW (Folge 18)
Das kickt – ein Thomas-Müller-Gedicht von Alex Dreppec, Darmstadt (Folge 13)
Aus der Reihe »Verlierer« heute: Rooney von Hellmuth Opitz, Bielefeld (Folge 11)
In letzter Sekunde (zum Spiel Schweiz – Ecuador) von Melanie Arzenheimer, Eichstätt (Folge 10)
Finale Prognose von Michael Hüttenberger, Darmstadt (Folge 1)
Summer by the River Isar
Richard Westermaiers Videoclip zu meinem (von mir selbst performten) Gedicht „Isarsommer“ ist gerade auf dem ersten „ReVersed Poetry Film Festival“ in Amsterdam (4. bis 6. April 2014) gezeigt worden. Die Übertragung ins Englische (Untertitel) stammt von Richard Dove.
http://youtu.be/Rfl3C8sQfqw
Anton G. Leitner liest: »Zu verkaufen« und »Kanarische Sichtweise« (Lesung in Bremen, 14.02.2014)
Am 14.02.2014 legte ich einen lyrischen Zwischenstopp an der Weser ein: In der Stadtbibliothek Bremen durfte ich gemeinsam mit Michael Augustin (Mit-Herausgeber DAS GEDICHT 21), Hellmuth Opitz (Mit-Herausgeber DAS GEDICHT 22) und Paul-Henri Campbell (Mit-Herausgeber DAS GEDICHT chapbook) sowie mit Ulrich Beck, Artur Becker, Sujata Bhatt, Sylvia Geist und Wolfgang Schlott lesen und die aktuelle Ausgabe von DAS GEDICHT vorstellen.
Einen kleinen Mitschnitt der von mir vorgetragenen Gedichte möchte ich Ihnen hier zum Nach-Hören präsentieren:
Audiodatei: Anton G. Leitner liest »Zu verkaufen« (Bremen, 14.02.2014)
Audiodatei: Anton G. Leitner liest »Kanarische Sichtweise« (Bremen, 14.02.2014)